Ernstfall Humor. Eine Analyse karnevalistischen Liedguts

Satire zum Thema Fasching/Karneval

von  JoBo72

Karnevalistisches Liedgut, das in den kommenden Tagen den Rhein auf und ab wabbert, enthält neben tiefen Einsichten in Weltweisheiten auch deutliche Spuren latenter Kulturkritik, thematisiert es doch paternale Abhängigkeiten aufgrund genetischer Disposition („Mein Vater war ein Wandersmann und mir steckt’s auch im Blut“) und stellt – ganz im dialektischen Sinne – Reflexionen über das Wesen des Menschen bezüglich seiner Geschlechtlichkeit an, die auch die Forschungsresultate der Gender-Studies berücksichtigen („Scheißegal, scheißegal, ob de ’n Huhn bis’ oder ’n Hahn“). Des weiteren kommt es im Karneval zur psychosozial implizierten Proklamation der Permanenz sympathetischer Geistesgemeinschaft („Joot Fründe stonn zusamme’“), getragen vom Appell an die Gemütslage unbestimmter Kardial-Diminutive („Herzilein, du sollst nicht traurig sein“), die in landwirtschaftlichen Transportationsofferten („Resi, I hol di mit’m Traktor ab“) und der Feststellung der Eigentumsverhältnisse in bezug auf ein nicht-motorisiertes Wasserfahrzeug in Signalfarbe („Er hat ein knallrotes Gummiboot“) ihre sozioökonomische Wendung erfahren, die tradierte Rollenmuster manifestiert und hierarchische Strukturen in die Lebensform der Postmoderne einbettet, exemplifiziert an einem populären Freizeithabitus („Er steht im Tor, im Tor, im Tor – und ich dahinter“). Daran ändern auch zielgerichtete Anfragen an gustorische Präferenzen unter Einschluss spezifischer Voluntarität („Oh, la, la. Willst du eine Pizza...?“) sowie die Aufforderung zur singulären gemeinschaftlichen Flüssigkeitsaufnahme („Drink doch eene mit“) nur sehr wenig. Auch aktuelle politische Themen wie die Finanzkrise („Wer soll das bezahlen, wer hat soviel Geld“), deren Bewältigung durch Subventionen („Die Karawane zieht weiter“), der Nahe Osten („Dann macht es ,bumm’“), die Lage in den Gefängnissen Chinas („Einer geht noch, einer geht noch rein“) und die zunehmend restriktive Praxis der baden-württembergischen Behörden in Fragen des Asylrechts („Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“) kommen in karnevalistischem Liedgut unverblümt zur Sprache und offenbaren schonungslos gesellschaftliche Missstände. Doch jede protorevolutionäre Regung kulminiert letztlich im Fatalismus („Ja, wenn das so ist, dann ,Prost’“).

Ganz besonders exponiert ein bereits eingangs zitierter Dauerbrenner karnevalistischen Liedguts jede Session auf’s Neue die zunehmend distinguierenden Verhältnisse unter den Konditionalitäten des Patriarchats, Bedingungen, die die Abhängigkeitsbeziehung der Frau vom Mann zementieren, der seine sozio-ökonomische Privilegiertheit schamlos ausnutzt: „Er hat ein knallrotes Gummiboot.“ Er, der Mann, ist im Besitz der Produktionsmittel. Er, der Mann, ist Inhaber des Mobilitätsmonopols. Zitat: „Mit diesem Gummiboot fahr’n wir hinaus! / Er hat ein knallrotes Gummiboot / und erst im Abendrot kommen wir nach Haus!“ Es stellt sich die Frage: Mit welchem Recht fährt der Mann mit seinem unschuldigen Opfer „hinaus“, mit welchem Recht erfolgt die Rückkehr „erst im Abendrot“? Was ist dies anderes als romantisch verklärte Freiheitsberaubung unter den Bedingungen gesellschaftlich beförderter ökonomischer Differenz? Selbstverständlich beschränkt sich der Besitz des Mannes auf das zweckrational erforderliche Minimum. Zitat: „Wir haben kein Segel und keinen Motor
und keine Kombüse / Oh nein!“ – Kein Segel, kein Motor, keine Kombüse. Artefakte, welcher der weiblichen Begleitung in ihrer Zwangslage zumindest einen Rest an Menschenwürde ließen, sind nicht vorhanden. Die revolutionäre Reaktion ist in diesem Kontext nur zu verständlich. Zitat: „Oh nein!“ Sie ist das Wiedererwachen und Aufbegehren des antipatriarchalischen Pathos. In diesem „Oh nein!“ bündelt sich der Freiheitsdrang der unterdrückten Frau. Dieses „Oh nein!“ ist eine Absage an jede Form maskuliner Oppression. Doch letztlich scheint dieser Schrei der Verzweiflung aussichtslos, denn es bleibt dabei: „Er hat ein knallrotes Gummiboot, / mit diesem Gummiboot fahr’n wir hinaus!“

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Kommentare zu diesem Text

Überreflexion (28)
(19.02.09)
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