VIII: Das Wiedersehen von Lían und Raí

Roman zum Thema Geschwisterliebe

von  kaltric

Doch was passierte wohl während all dieser langen Zeit im Süden, bei Tól und Omé? Nun, diese bekamen oft, doch immer seltener werdend, Nachricht von Emaior und Raréon. In allen drei Gebieten gediehen die Länder, die Bewohner waren zufrieden, es ging ihnen gut und sie hatten nichts und niemanden zu fürchten. Doch oft standen Tól und Omé oberhalb der Versammlungshalle in Lían am Fuß der Berge und blickten gen Süden, wo sich in großer Ferne die gewaltigen, hohen Wälle des Azirun erhoben und den ehemaligen Süden von Lurruken von den kalten Gebieten noch weiter südlich trennten. Etliche Flüsse entsprangen in den Tälern der Berge und flossen in die tieferen Gegenden. Der größte davon war die Nechdra, an deren Oberlauf Arsen, am Unterlauf Darôn und an der Mündung schließlich die Festung Silour lagen.
Zwischen 2015 und 2019, also gute vier Jahre vor dem Zusammentreffen von Machey und den Adligen von TuKarra, etwa zum Höhepunkt des Krieges zwischen Raréon und Iotor, blieb auch Silön alles andere als untätig. Raí war zu dieser Zeit 27 bis 31 Jahre alt und hatte längst seinen lang gehegten Traum verwirklichen können: er war Oberbefehlshaber von Silöns Truppen und eroberte in diesen vier Jahren für Silön zahlreiche der kleinen Reiche und Staaten zwischen Nechdra und Azirun, die nach 2000 und dem Fall von Lurruken entstanden waren. Raí wurde zum größten Krieger von Silön. Er brachte Feuer und Schwert in die Kleinreiche an den Grenzen und wenn man sich nicht freiwillig ergab und unterwarf, half er mit eben diesen nach, um sie zu Silön zu bekehren. Im Frühjahr des Jahres 2019 weilte er wieder in Silour. Im ganzen Reich war er schon lange als Held bekannt und wurde bei seiner Ankunft von den Bürgern auch dementsprechend gefeiert und bejubelt. Schließlich ritt er, nur begleitet von dreien seiner treuesten Leute, in den Palast ein, wo er von Thaléon Balouron, dem Berater Silöns und wie so stets ganz in Schwarz gewandet, bereits erwartet und dann auch freudig begrüßt wurde.
„Raí! Herzlich willkommen! Silön erwartet dich bereits.“
Raí stieg endlich von seinem Tier, trat Balouron gegenüber und legte ihm die Hände auf die Schultern. Er blickte ihn fest und ernst an, um dann zu grinsen.
Balouron freundschaftlich die Schultern schüttelnd antwortete er ihm: „Es tut gut, euch wieder zu sehen, alter Freund.“
Balouron blickte betont kühl.
„Ja, tut es.“
Endlich ließ auch Raí von seinen Schultern ab und grinste.
Balouron fuhr fort: „Ihr hattet viel Erfolg in den Flussländern, wie wir gehört haben. Silön ist sehr zufrieden.“
Raí nickte grinsend. Zusammen gingen sie in den Palast und redeten dabei weiter.
„Ja. Es war schwer, lang und hart, doch wir haben es geschafft: viele der herrscherlosen Völker erkennen jetzt Silön an.“
Raí hatte sich in den letzten Jahren stark verändert. Er war groß geworden und durch seine ständigen Übungen und Schlachten hatte sich sein Körper gestählt. Seine Haare trug er nun länger und er war wesentlich selbstsicherer als früher. Auch sah man ihn fast nur noch in Rüstzeug und bewaffnet. Er erzählte Balouron noch eine Weile begeistert von dem, was er gesehen, was er erlebt und was er erzielt hatte, dann erreichten sie endlich den Thronsaal, wo Balouron ihn allein zurück ließ. Silön war wieder einmal in dem kleinen Geschäftsraum an der Seite des Saales zu finden, an einem Tisch sitzend und über Karten gebeugt. Raí musste sich laut räuspern, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Silön blickte, wie gewohnt gerne spielend überrascht guckend, auf, um dann warm zu lächeln.
„Ah, unser kleiner Raí – schon zurück?“
Silön stand auf, trat von dem Tisch zurück und kam auf ihn zu.
„Ja, endlich wieder hier!“
Raí packte Silön und sie umarmten sich freundschaftlich. Dann schlug Silön ihm auf die Schulter.
„Also, wie war deine Reise? Was hast du erlebt? Erzähl mir alles, jede noch so kleine Einzelheit!“
„Gerne, aber erst möchte ich etwas trinken!“ lachte Raí.
„Oh, natürlich, wie unhöflich von mir“, grinste Silön zurück.
Silön reichte ihm einen Becher aus dem Regal und füllte sich und Raí jeweils etwas Wein ein.
„Silön“, fing Raí an, „dein Schutzbereich vergrößert sich.“
Dann erzählte er von all seinen Schlachten und Erlebnissen und zeigte dabei Orte und Länder auf der Karte vor Silön. Irgendwann unterbrach Silön seinen begeisterten Redefluss und blickte ihn ernst an.
„Du weißt, warum wir dies alles tun, oder?“
Raís Lächeln versiegte schließlich doch noch.
„Wegen meinen Eltern.“
Silön nickte und nahm einen Schluck.
„Richtig. – Wir müssen deinen Eltern Einhalt gebieten. Ich habe erfahren, dass sie planen, uns anzugreifen.“
„Was? Warum tun sie so etwas?“ fragte Raí, traurig blickend.
„Weil sie die mächtigsten Wesen dieser Welt werden wollen, weil sie angebetet werden wollen, mächtiger und stärker als es Tamirús und seine Vorgänger je waren.“
„Aber das werden sie doch jetzt schon“, entgegnete Raí.
„Ja, aber eben nicht von allen.“
Raí schüttelte nur noch traurig den Kopf.
Silön seufzte und schnitt dann das eigentliche Thema des Tages an.
„Wir müssen sie aufhalten.“
Raí blickte auf und runzelte nachdenklich die Stirn.
„Und wie?“ fragte er schließlich.
Silön deutete auf einen roten Punkt auf der Karte, nordöstlich der Gebiete, von denen Raí zuvor erzählt hatte.
„Hier ist ihre wichtigste Grenzstadt, Maggin. Ich habe die Befürchtung, dass sie uns von dort werden angreifen wollen.“
Dann deutete Silön auf einen weiteren Punkt, nah Silour an der Nechdra.
„Hier ist Darôn, deine Stadt.“
Schließlich wanderte Silöns Finger zu einem Punkt zwischen Maggin und Darôn, irgendwo an dem großen Fluss Panenfiress zwischen den Flüssen Nechdra und Gamont.
„Und hier schließlich liegt Diméo. Diméo ist ein kleiner Ort direkt am Panenfiress, von niemandem beansprucht. Dieser Ort ist für uns bestens geeignet, liegt er doch sehr nahe an Maggin und nicht sehr weit von deinem Darôn entfernt.“
Raí, der in den letzten Jahren ein guter Heeresführer geworden war, nickte ernst und zustimmend.
„Ich sehe, was du meinst.“
Silön sah ihn kurz an, um dann fortzufahren.
„Zieh deine Truppen dort in Diméo zusammen. Wir müssen deine Eltern angreifen, bevor sie selbiges gegen uns versuchen und Gelegenheit haben, selber zuzuschlagen.“
Raí nickte ernst, um kurz darauf Silön nachdenklich und etwas gequält aussehend anzublicken.
„Aber müssen wir sie wirklich bekämpfen? Gibt es keinen anderen Weg?“
Und Silön schüttelte den Kopf.
„Nein, gibt es nicht. – Wirst du deine Aufgabe erfüllen?“
Raí blickte traurig, willigte aber ein.
„Wenn es sein muss.“
„Ja, das muss es.“
In den darauf folgenden Monden sammelte Raí aus den Gebieten Silöns alle Truppen, die zu entbehren waren und ließ sie nach Diméo kommen, wo sie zu einer großen Armee vereinigt wurden. Während die Einwohner Diméos alles ängstlich beobachteten und bald nur noch damit beschäftigt waren, die Armee zu versorgen, war Raí mit der Bildung eben dieser gegen Winter endlich fertig und reiste zurück nach Silour.
„Alle Vorbereitungen sind getroffen“, verkündete er, nach dem er von Balouron und Silön im Geschäftszimmer des Thronsaales empfangen worden war.
„Sehr gut“, antwortete ihm Silön, „ich bin stolz auf dich.“
Dies freute Raí sichtlich.
„Lass sich deine Leute aufeinander abstimmen und reichlich miteinander üben. Im nächsten Jahr, während der ersten Frühjahrstage, greifst du dann endlich an.“
Und Raí nickte ergeben.
„Ja, Silön.“
„Aber Raí“, ergänzte Silön, „sei vorsichtig! Balouron hat Nachricht bekommen von unseren Spähern aus Maggin.“
Damit überließ Silön nun Balouron das Wort, welcher neben dem Stuhl von Silön stand. Er nahm einen großen Stapel Briefe vom Tisch und schob sie bedächtig Raí zu.
„Raí, wir haben Kunde bekommen, dass deine Eltern ihre Armee in Maggin zusammen ziehen. In diesen Unterlagen steht alles, was wir über ihre Pläne und Bewegungen wissen.“
Und Raí nahm die Schriftstücke und blätterte sie flüchtig durch.
„Das habe ich bereits erwartet“, antwortete Raí nachdenklich. „Sollten sie uns wirklich angreifen, werden wir sie kampfbereit erwarten, sonst greifen wir sie selber an.“
Silön nickte, stand auf und legte Raí die Hände auf die Schultern.
„Aber passe auf dich auf. Du bist wie ein Sohn für mich geworden!“
Dann umarmte Silön Raí kurz, aber heftig. Als er wieder frei war, nickte Raí nur grimmig und düster. Balouron legte ihm nur die Hände auf die Schultern.
„Pass auf dich auf, mein Freund.“
Schließlich verließ Raí die Feste wieder und warf einen Blick zurück. Er sollte nicht noch einmal zurückkommen.

In der Zeit, in der Raí in Silour mit seinen Vorbereitungen beschäftigt war, zog Malont Déaron, Nachfolger von Amant Emaior, unterstützt von Gaunus, dem alten Anhänger Tól und Omés, eigene Truppen in Maggin zusammen. Denn auch Tól und Omé hatten erfahren, dass man in Diméo eine Armee sammelte, wussten aber nicht, wer sie anführte. Um ihre Grenze zu schützen, wurde man aber geschwind auch selber tätig. Im Frühjahr des Jahres 2021 war es Raí, im Alter von dreiunddreißig Jahren, der seine Armee als Erster ausrücken ließ. In Maggin handelte Malont Déaron fast sofort und schritt ihm entgegen, man wollte Maggin tunlichst aus jeglichen Kampfeshandlungen heraus halten. Zwischen den Flüssen Panenfiress und Gamont lag eine weite und lediglich stellenweise von Wäldchen durchsetzte Ebene. Ungefähr in der Mitte von dieser Ebene sollten beide Armeen aufeinander treffen. Bühnengerecht drapiert standen sie sich zwischen zwei kleinen Wäldchen gegenüber und versuchten sich gegenseitig einzuschüchtern. Raí stand mit seinen ranghöchsten Offizieren an der Spitze seiner Armee und beriet sich mit diesen.
„Herr, ihre Armee scheint ebenso groß zu sein wie unsere“, sprach einer der beiden Offiziere.
„Auch sind sie gleich stark und ausgerüstet“, ergänzte der andere.
Raí betrachtete sie wütend.
„Ja und? Unsere Leute sind besser ausgebildet und kämpfen für eine gerechte Sache!“ sprach er und verließ sie.
Er stellte sich breitbeinig und das Bild eines Helden abliefernd vor seine die Gegner betrachtende Armee und ließ einen Hornbläser ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich lenken.
„Soldaten von Silön!“ rief Raí laut. „Wir sind hier, um unser Land vor den Lügen und den Armeen aus dem Norden zu schützen!“
Und man antwortete ihm mit lautem und zustimmendem Gebrüll. Raí deutete auf die Gegner.
„Dort stehen unsere Feinde! Wollt ihr sie vernichten?“ rief er fordernd und voller Leidenschaft, die seine Traurigkeit ob dieser Notwendigkeit nur überdecken sollte.
Und wieder antwortete man ihm mit Gebrüll und Kampfesrufen.
„Dann lasst uns sie angreifen!“
Raí deutete mit dem Schwert auf die Gegner und ließ es wie ein Fallbeil herabfallen. Seine Leute brüllten und schrien weiter ihre Kampfesrufe, dann stürmten sie alle wild heulend los.

Und was passierte derweil auf der anderen Seite des Schlachtfeldes, bei der Armee aus Maggin? Malont Déaron stand mit Gaunus, seinem Bannerträger und zwei Soldaten ebenso vor seinen Leuten, wie Raí vor seinen.
„Was meint ihr, wie viele sind das wohl?“ fragte Gaunus Déaron und kniff die Augen zusammen, um in der Ferne mehr erkennen zu können.
Der Gefragte warf lediglich einen verächtlichen Blick auf die Gegner.
„Nicht genug um gegen uns anzukommen“, entgegnete er gelangweilt.
Gaunus wirkte ob der erdrückenden Menge an Kämpfern auf beiden Seiten sichtlich nervöser und verunsicherter.
„Wer sie wohl anführt?“ fragte er sich laut genug, dass Déaron es hörte.
„Sicher einer dieser Barbaren Silöns“, antwortete Déaron, ohne Gaunus eines Blickes zu würdigen.
„Wie lange es wohl noch dauert, eh sie etwas unternehmen?“ fragte sich Gaunus schließlich.
„Vermutlich haben sie Angst“, entgegnete Déaron nur.
„Dort geht etwas vor…“, murmelte Gaunus plötzlich, als sich vor der feindlichen Armee etwas bewegte.
Auch Déaron konnte es sehen und wusste, was zu tun war.
„Lasst die Truppen antreten!“ befahl er Gaunus scharf.
Dieser grüßte, drehte sich zu den wartenden Truppen um und musterte sie nur kurz.
„Angetreten!“ rief er lautstark.
Déaron legte ihm kurz eine Hand auf die Schulter, um dann das Wort zu übernehmen und zu seinen Leuten zu sprechen.
„Anhänger von Tól und Omé!“
Von der anderen Seite des Schlachtfeldes ertönte lautes Gebrüll, das Déaron allerdings ignorierte.
„Ihr wisst, warum wir hier sind!“ fuhr Déaron fort.
Die Soldaten sahen ihn nur still, schweigsam und erwartungsvoll an.
„Diese Armee dort drüben bedroht die Sicherheit eurer Familien in Maggin, Lían, Taiban und den restlichen Orten unter dem Schutz von Tól und Omé. Wollt ihr das etwa zulassen?“
„Nein!“ entgegnete man ihm schreiend, während die andere Armee ebenso ihre Rufe schrie.
„Dann nehmt eure Waffen zur Hand und verteidigt eure Familien und eure Heimat, ehe die dort sie zerstören!“
Déaron hob sein Schwert und deutete gen Himmel und zu den Feinden.
„Für Tól und Omé!“ schrie er laut und ließ sein Schwert niedersausen.
Gaunus und die Soldaten antworteten ihm gleichermaßen und stürmten los, auf den Gegner zu. Déaron sah ihnen nach um ihnen dann zu folgen, während der Gegner sich gleichzeitig ebenso in Bewegung setzte. In der Mitte der Ebene trafen die beiden Armeen aufeinander. Es wurde aber kein schneller, tatenfroher Kampf, sondern ein zäher, langsamer, mit zahlreichen einzelnen und verbissenen Zweikämpfen. Stundenlang schien nicht viel zu passieren, dann traf Raí schließlich auf Gaunus. Ihre Blicke begegneten sich und beide waren mehr als überrascht, den jeweils anderen zu sehen.
„Raí! Du lebst!“ rief Gaunus zuerst vor Freude, ihn wieder zu sehen.
Er erkannte ihn trotz seiner äußerlichen Veränderungen, der verstrichenen Zeit, doch dann erkannte er ebenso auch die Farben, in denen Raí kämpfte. Sein Gesicht verfinsterte sich.
„Du kämpfst für Silön!“
„Und du noch immer für meine Eltern“, entgegnete Raí ihm, „schließe dich uns an, Silön wird dich vor meinen Eltern schützen!“
Doch Gaunus war von diesem Vorschlag entsetzt.
„Was? Du bist wahnsinnig! Wer hat dich so geblendet?“
Raí schüttelte bedauernd den Kopf.
„Nicht ich bin es, der geblendet wurde, sondern du.“
„Silön will uns alle ins Unglück stürzen, wie kannst du das bloß unterstützen?“ wollte Gaunus wütend wissen.
Doch Raí antwortete ihm nicht mehr mit Worten. Er wurde wie rasend vor Zorn, hatte das tiefe Bedürfnis, Silön zu schützen und wusste sich nicht anders zu helfen, als sein Schwert zu heben und mit erschreckender Härte auf Gaunus einzudringen. Dieser wehrte sich zwar tapfer, doch merkte er schnell, dass er unterlegen war.
„Raí, hör auf!“ rief Gaunus, um sein Leben fürchtend.
Aber es war zu spät. Raí traf Gaunus am Helm, und der Getroffene brach zusammen. Er starrte entsetzt auf den Körper und fragte sich, was er getan hatte. Da wurde er bereits von einem weiteren Kämpfer bedrängt und musste sich nun selber wehren.
Unbemerkt von allen Kämpfenden traf zu diesem Zeitpunkt Lían auf dem Schlachtfeld ein. – Doch, einer bemerkte sie. Es war Malont Déaron, der am Rande des Geschehens seine Kämpfe austrug. Gerade hatte er einen Gegner besiegt und stand da, auf der Suche nach dem nächsten, da bemerkte er sie, wie sie angeritten kam, in sicherer Entfernung zu den Kämpfenden hielt und die Reihen nach bekannten Gesichtern absuchte.
„Lían!“ rief Déaron überrascht und hielt auf sie zu.
Lían stieg von ihrem Tier und begrüßte ihn kurz.
„Déaron, sagt mir, wie steht es?“
Déaron sah schmutzig und erschöpft aus.
„Wir kämpfen nun schon seit Ewigkeiten hier, wie mir scheint, ohne dass jemand auch nur einen kleinen Vorteil erringen konnte.“
Er musterte sie kurz, bevor ihm endlich etwas auffiel.
„Aber was habt ihr hier zu suchen? Ihr solltet doch in der Sicherheit von Maggin bleiben! Wenn eure Eltern das erfahren, verbannen sie mich für immer aus ihrem Gebiet!“
Er rollte übertrieben mit den Augen, doch Lían seufzte nur.
„Ich hielt es nicht mehr aus“, entgegnete sie forsch und mit einem drängenden Ton in der Stimme.
„Hier könnte das Schicksal von uns allen entschieden werden und ich konnte nicht tatenlos zusehen“, sie unterbrach sich kurz, ihre Stimme wurde ruhiger, doch bekam einen düsteren Unterton, „etwas drängte mich, herzukommen. Ich weiß auch nicht, was, aber ich muss hier sein!“
Déaron musterte sie kurz, sie sah fest zurück.
„Nun gut, wenn ihr schon mal hier seid, könnt ihr uns auch genauso gut helfen. Wir können jedes weitere Schwert gebrauchen!“
„Danke, Malont“, antworte Lían erleichtert.
„Ich werde aber auf euch aufpassen!“ erwiderte dieser in festem und bestimmtem Tonfall.
„Tut, was ihr nicht lassen könnt“, lächelte Lían.
Dann zückte sie ihr Schwert, als auch schon zwei Gegner auf sie zustürmten. Lían und Malont Déaron kämpften eine Weile Seite an Seite gegen die Feinde und sie bewahrte ihn öfter vor Unheil als er sie. Doch bald schon wurden sie getrennt und beide waren auf sich allein gestellt. Nach einiger Zeit sah Lían plötzlich im Schlachtgetümmel, und unweit ihrer eigenen Stellung, ihren Bruder.
„Raí!“ rief sie überrascht.
Auch er selbst sah überrascht aus, doch kämpften sie sich schnell aufeinander zu. Sie entledigten sich ihrer Gegner und standen sich schließlich schweigend und musternd gegenüber, während um sie herum alles kämpfte.
„Du bist groß geworden“, brach Lían schließlich das Schweigen.
„Und stark. Du siehst gut aus.“
„Du aber auch, Schwester“, erwiderte ihr Bruder.
Lían musterte sein Schwert mit offenem Missfallen.
„Wie ich sehe, hast du ja nun wohl deinen Willen endlich bekommen und das Kämpfen erlernt. Und gar nicht mal schlecht, muss ich sagen.“
„Silön hat mir alles gegeben, was mir unsere Eltern immer verwehrt hatten“, antwortete Raí eisig.
Lían seufzte kurz.
„Du weißt, dass das so nicht stimmt. Du warst nur viel zu jung für Waffen und fürs Kämpfen!“
„Das ändert nichts an den Tatsachen.“
Lían war kurz sprachlos, dann fiel ihr etwas anderes auf: „Warum nur bist du zu Silön übergelaufen?“
„Weil Silön für mich da war, sich für mich interessierte, mich zu etwas wichtigem machte und mir alles Nötige beibrachte!“
„Und dafür hast du uns, mich, deine Eltern, deine Familie, deine Freunde, deine Heimat – uns alle verraten?“ fragte Lían traurig.
„Nicht ich habe euch verraten, ihr habt mich verlassen!“ schleuderte Raí ihr hitzig und wütend ins Gesicht.
„Du bist weggelaufen und hast alles verraten, wofür wir stehen; kämpfst nun, um uns zu vernichten“, erinnerte ihn Lían und Tränen stiegen ihr in die Augen.
Raí schwankte zwischen Wut, Mitleid mit Lían, Liebe zu Silön, Hass auf seine Eltern und verletztem Stolz. Er versuchte sich mit Hohn und Schimpf zu schützen und so seine Gefühle zu verbergen.
„Dich haben unsere Eltern immer umhegt und gepflegt, du warst ihr Liebling. Aber haben sie sich je um mich oder um mein Geschick gekümmert? Wo waren sie, nachdem ich fortgelaufen war?“
„Wir haben uns alle schreckliche Sorgen um dich gemacht und nach dir gesucht, nachdem du verschwunden warst“, antwortete Lían und Tränen liefen ihr über die Wange.
„Davon habe ich nie etwas gehört, nur immer Verbote. Silön aber gab mir alles; alles was ich wollte, alles was ich brauchte.“
„Silön benutzt dich nur, um Rache an unseren Eltern zu üben!“
„Das ist nicht wahr!“ erwiderte Raí barsch und hitzig und lief vor Wut rot an. Sein Schwertarm zitterte.
„Du weißt genauso wie ich, dass es wahr ist!“ schrie sie ihm verzweifelt ins Gesicht.
„Nein!“ schrie Raí, dass es jeder hörte.
In diesem Moment brach etwas in ihm; brach seine Selbstbeherrschung zusammen. Wütend und ohne Kontrolle über sich, über seine Handlungen, hob er sein Schwert, rannte auf Lían zu und schlug nach ihr. – Ungeschickt, doch kräftig, und Lían hatte Mühen, ihn abzuwehren. Wie rasend, wie in einem Blutrausch, schlug Raí wieder und wieder auf Lían ein. Diese musste nur ihr Schwert heben um ihn abzuwehren, doch ließen seine harten Schläge ihren Arm schnell taub werden, ihren Körper bis ins Mark erzittern. Raí war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig, Lían hatte Angst um sich und ihren geliebten Bruder, um ihr beider Leben.
„Raí, so höre doch auf!“ rief sie verzweifelt, doch weder er, noch irgendjemand anders vermochte sie zu hören.
Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie sterben würde, erschlagen vom eigenen Bruder, dass er dies nach seiner Raserei bedauern und sich Vorwürfe machen, sich sogar etwas antun würde. Dann dachte sie an ihre Eltern und ihr Volk und sie sagte sich, dass sie jetzt nicht versagen, dass sie diese nicht enttäuschen und allein lassen dürfe. Sie dachte an Silön und die Lügen, die ihren Bruder so geblendet hatten. Darob wurde nun auch sie wütend. Nicht länger erduldete sie nur die Schläge ihres Bruders, sondern schlug auch zurück. Dieser merkte zunächst nichts davon, doch war alsbald erstaunt. Sein Zorn ließ nach, seine Schläge wurden schwächer, seine Kampfkunst ungeschickter. Schließlich schaffte es Lían, ihm das Schwert aus der Hand zu schlagen. Raí sank auf die Knie und erwartete sein Ende. Lían setzte ihr Schwert an das Herz ihres Bruders, doch besaß sie mehr Selbstbeherrschung denn dieser und so zügelte sie ihren Zorn, sah ihn nur an. Tränen stiegen ihr wieder in die Augen und liefen ihr über die Wangen.
„Raí, ergib dich“, schluchzte sie verzweifelt.
„Du hast große Fortschritte gemacht, liebe Schwester“, stellte dieser lediglich ruhig fest.
Lían brachte ein verzerrtes, verzweifeltes und kurzes Lachen zustande, das kaum fröhlich klang.
„Du aber auch“, antwortete sie ihm.
Dann riss sie sich zusammen und blickte ihn ernst an.
„Raí, ergib dich und komm mit mir. Unsere Eltern werden dir vergeben. Vergiss Silön!“
Doch Raí musste nicht überlegen.
„Nein, niemals!“ rief er.
Raí versuchte schnell nach seinem Schwert zu greifen, doch war er nicht schnell genug; Lían war schneller. Wie von selbst ob der drohenden Gefahr zuckte ihr Schwertarm vor und ihre Waffe drang tief in Raís Körper ein. Erschrocken ließ sie ihr Schwert augenblicklich los und sah ihren Bruder an, der überrascht den Griff des Schwertes umfasste, bevor er stöhnend nach hinten sank und zusammenbrach. Entsetzt starrte Lían ihn an und war zu keinem Gedanken fähig, während er die Waffe in seinem Körper mit beiden Händen umfasste.
„Schwester…“, krächzte er.
Dies brach ihren Bann. Sie sank neben ihm auf die Knie. Kurz besah sie die Wunde und wusste, dass es zu spät war.
„Raí…“, sagte sie und zog seinen Kopf vorsichtig auf ihren Schoß.
„Es tut mir Leid…“, murmelte sie und strich ihm die Haare aus dem Gesicht.
„Nein…“, erwiderte er und hustete mit qualvollem Gesicht.
„Es tut mir Leid…“
Diese Worte zerstörten Líans Bann endgültig. Tränen liefen ihr immer schneller über das Gesicht.
„Wie ist es nur so weit gekommen?“ fragte sich Raí hustend.
„Raí…“, schluchzte seine Schwester.
Dieser sah sie nun an. Mit einer Hand strich er ihr die Tränen von der Wange, dann packte ihn ein neuer Hustenanfall.
„Sag unseren Eltern, dass ich sie liebe“, brachte er noch hervor.
Lían konnte nichts mehr antworten, sie weinte nun völlig.
„Lían… Schwester… ich liebe dich“, sprach Raí.
Sämtliche Kräfte ihn verlassend erschlaffte sein Körper, die Hand an Líans Wange fiel kraftlos zu Boden. Es dauerte eine geraume Weile, bevor Lían dies gänzlich mitbekam. Entsetzt und ängstlich sah sie ihn an.
„Raí…?“ fragte sie, doch niemand antwortete ihr.
„Raí…“, stellte sie fest, fast gefühllos und gefasst und strich ihm über das Gesicht, doch er reagierte nicht.
„Raí!“ schrie sie und fing wieder heftig an zu weinen.
Sie nahm ihn fester in den Arm und drückte ihn an sich. Unbemerkt von Lían ließen die Kämpfe um sie herum immer weiter ab, nach und nach. Bereits als Raí im Sterben lag, hörten die Kämpfe um sie herum auf und alle beobachteten sie. Nun, ohne ihre Anführer, da auch Raís höchste Offiziere umgekommen waren, verließ seine Truppen jeglicher Kampfeswille. Schnell verließen sie das Schlachtfeld und verstreuten sich überall hin.
Doch Malont Déaron und seine Leute feierten nur verhalten, die meisten suchten die Verwundeten zusammen. Einer dieser Verwundeten war Gaunus, welcher von Raí nur bewusstlos geschlagen worden war. Irgendwann war er von alleine wieder erwacht und kam nun zu Lían. Bedrückt stand er neben Lían, sah kurz auf Raí und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Besser vermochte er sie nun nicht zu trösten. Lían sah kurz zu ihm auf, ein von Tränen feuchtes Gesicht ließ auch ihn traurig werden. Dann sah sie wieder zu ihrem Bruder. Sie packte ihr Schwert und zog es ihm mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Körper, als würde sie es in sich selbst hinein stoßen. Schnell und angewidert ließ sie es fallen und krümmte sich, als wäre ihr schlecht. Dann riss sie sich zusammen, legte die Arme unter Raís Körper und mit überraschender Kraft hob sie ihn hoch. Ihre Tränen bekämpfend verließ sie das Feld, während ihr die Soldaten Platz machten, sie aber bedrückt ansahen. Gaunus hob ihr Schwert auf und folgte ihr langsam, ebenso düster blickend.
Lían brachte ihren Bruder zu einem der Wagen, welche für die Verwundeten bereit standen, und fuhr ihn mit diesem zu ihren Eltern. Gaunus musste zurückbleiben, um sich behandeln zu lassen. Malont Déaron und der Rest folgten ihr erst, nachdem alle versorgt waren. Kaum, dass Lían in der Stadt angekommen war, kamen Tól und Omé aus der Versammlungshalle. Líans Mutter eilte sofort zu ihr und nahm ihre Tochter in die Arme, während Tól wie immer keine Gefühle zeigte, doch düster schaute.
„Bringt Raí in die Halle“, sprach er
Einige Männer wollten seiner Anordnung Folge leisten, doch Lían ging dazwischen und brachte ihn selbst in die Halle. Raí wurde in den folgenden Tagen vorbereitet, während Tól und Omé eine vierwöchige Trauerzeit anordneten und Raís Todestag zum Trauertag erklärten. Nach einer Woche wurde Raís Leiche dann in einer Grabkammer in den Bergen hoch über der Stadt Lían beigesetzt. Tól und Omé, Lían, Gaunus und andere, begleiteten seine Träger den Weg hinauf. In der Zeit danach ließ Malont Déaron die Burg Raí räumen und siedelte mit seinen Leuten nach Maggin um. Die Burg Raí sollte für immer verlassen und nie wieder genutzt werden.

Und in Silour betrauerte auch Silön den Verlust von Raí und ordnete ebenso eine lange Trauerzeit an. Sogar bis zu Amant Emaior und Raréon drang die Kunde von Raís Tod vor, welche dasselbe taten wie der Rest. In den folgenden Jahren sollte es ruhiger werden in den Gebieten von Tól und Omé. Es gab gelegentliche Auseinandersetzungen mit Silön und Banditen aus dem Osten, doch nichts Großes sollte vorerst mehr passieren. Dafür aber geschah umso mehr bei Raréon und Mytillin Machey.

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