Großmarkt

Roman zum Thema Suche

von  Mutter

„Hast du damals sonst noch was rausgefunden?“, frage ich dazwischen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Chris die Sache einfach auf sich beruhen hat lassen – vor allem, nachdem er ein solches Risiko für Tiger eingegangen war.
Er zuckt mit den Schultern, zieht intensiv an seiner Kippe. „Ich habe seine Kumpels gefragt, und den Rest der Jungs, die mit dem Programm in Hamburg waren. Ein oder zwei haben ihn später in Berlin wiedergesehen – ihm war also nichts passiert. Ich habe die Sache dann auf sich beruhen lassen, wollte nicht, dass er denkt, ich würde ihm Vorwürfe machen.“
„Okay, kannst du uns die Daten von der Familie geben? Ich würde gerne mit ihnen reden“, frage ich und er nickt sofort. „Klar, kommt mit rein. Ich hab‘ die Bullen kopiert – kann ich für euch auch machen.“
Die fertiggerauchte Kippe drückt er in einem Aschenbecher vorne an der Tür aus und schmeißt sie weg. Wir folgen ihm ins Büro.
„Anna, das ist mein früherer Kollege Luca – du erinnerst dich? Und das ist Manu“, stellt er uns vor. Seine Kollegin steht auf, um uns die Hände zu schütteln. „Klar erinnere ich mich. Er hat oft genug von Ihnen erzählt“, sagt sie mit einem Lächeln.
„Wir haben uns früher immer gefragt, ob es uns nicht guttun würde, hier mit einer Frau zusammen zu arbeiten. Also den Jungs“, verbessere ich mich schnell. Anna lacht ein helles und attraktives Lachen, bei dem sie leicht den Kopf nach hinten wirft und uns ihren Hals zeigt. „Ja, das hat er mir auch erzählt. Wahrscheinlich, um zu begründen, warum ich hier solange nur die zweite Geige spielen durfte und alle Entscheidungen über seinen Tisch gingen“, sagt sie mit einem Augenzwinkern in Chris‘ Richtung.
„Pffff“, ist seine Antwort, während er eine Reihe von Ordnern durchstöbert. „Jedenfalls hast du inzwischen klar die Hosen an.“
„Wir haben das früher immer alles bei einem Spiel entschieden“, sage ich und zucke mit den Achseln. „Billard, Kicker, Tischtennis - basisdemokratisch, quasi.“
Ich werde mit einem weiteren Lachen von ihr belohnt. Dann fragt sie Chris: „Was suchst du?“
Er versucht, seine Verlegenheit zu überspielen. „Geht um so eine alte Geschichte, einen unserer damaligen Jungs.“
„Ist das dieselbe Geschichte wegen der die Bullen neulich da waren?“
Ich bin beeindruckt – Anna ist nicht auf den Kopf gefallen. Passt Chris bestimmt nicht, dass sie so fix eins und eins zusammen zählen kann.
„Äh … ja“, antwortet er ausweichend und sucht weiter. Dann kommt ein triumphierendes „Ich hab’s!“ von ihm. „Hier sind die Infos.“
Er kommt um den Schreibtisch rum und reicht mir einen Zettel. „Familie Keller, nicht Kellermann. Die hatten einen damals siebzehnjährigen Sohn, Paul, mit dem hat sich Tiger ganz gut verstanden, soweit ich weiß.“
Ich nehme das Blatt Papier und sehe mir die Adresse an. Sagt mir nichts, aber ich kenne mich in Hamburg auch nicht aus. Aber eine Telefonnummer steht dabei. „Kannst du mir davon eine Fotokopie machen?“
Sein Blick zuckt rüber zu Anna, die bereits wieder an ihrem Schreibtisch sitzt. Mir ist klar, dass das nicht so ganz koscher ist – aber soll er die Geschichte für sie halt ein wenig ausschmücken. Ihm fällt schon was dazu ein. Offenbar ist er zu demselben Ergebnis gekommen wie ich – er nickt. Als ich ihm den Zettel wiedergebe, verlässt er das Zimmer – den Kopierer haben sie damals auf sein Bestreben in den Gang unter die Treppe gestellt – Chris hatte damals behauptet, das Ding würde Elektrosmog absondern.
Anna findet offenbar nicht, dass sie uns mit Smalltalk unterhalten muss, was mir sehr angenehm ist. So warten wir kurz die zwei, drei Minuten, bis Chris zurück ist. Er überreicht mir die Kopie und begleitet uns nach draußen. Durch die halboffene Tür verabschieden wir uns von Anna.
Chris hält uns die Tür auf, ich gehe hinter Manu nach draußen.
„Was macht ihr jetzt?“, fragt er, als wir neben ihm stehen. Er ist bereits dabei, die nächste Kippe aus der Tasche zu fummeln.
Ich warte kurz, ob Manu ihm antwortet, aber als sie nicht reagiert, sage ich: „Keine Ahnung, erstmal bei den Kellers anrufen. Vielleicht können die mir mehr darüber erzählen, warum Tiger damals so überstürzt weg ist.“
Ich kann sehen, wie viel Mühe mit der nächsten Frage hat – er kaut einer Weile auf ihr herum, bevor er sie endlich ausspuckt. „Warum ist das wichtig? Was hat Hamburg mit dieser Geschichte jetzt zu tun?“
Mir ist nicht ganz klar, ob er die Frage nicht stellen wollte, weil er Angst vor der Antwort hat oder ob er einfach nur versucht, möglichst aus der ganzen Sache rauszubleiben.
Mit meiner Antwort tue ich mich auch kaum leichter. „Das wissen wir noch nicht genau. Aber aus demselben Grund, aus dem auch das LKA danach gefragt hat – möglicherweise gibt es da eine Verbindung. Das kann ich dir aber erst sagen, wenn ich mit den Kellers gesprochen habe.“
Er nickt, exhaliert mit weit geöffnetem Mund den Rauch. „Okay. Macht vielleicht auch nichts, wenn ich davon nicht mehr weiß.“ Er lächelt uns nacheinander verlegen an.
„Wie gesagt, du hast mein Wort, dass du durch uns nicht in weitere Schwierigkeiten kommst. Inwieweit die Bullen bei der Sache von damals noch nachhaken …“ Ich lasse den Satz unvollendet. Er nickt, spuckt aus. Verreibt die Spucke auf dem Waschbeton mit der Schuhspitze. „Werden wir ja sehen. Der Kommissar klang erstmal nicht so, als würden sie mir deswegen jetzt unbedingt an den Karren fahren wollen. Aber man weiß ja nie. Damit setze ich mich dann auseinander, wenn es so weit ist.“
Seine gespielte Unbefangenheit täuscht mich nicht – ich weiß, wie viel Angst er davor hat, den Job hier zu verlieren. Hatte er damals schon, deswegen hat ihn meine Kündigung auch so mitgenommen. Und seine Schuldgefühle verstärkt – obwohl mich der Rausschmiss längst nicht so mitgenommen hatte. Ich war zwar unglücklich, dass ich aus dem Heim wegmusste, meine Jungs im Stich lassen, aber echte Angst hatte ich keine. Ich wusste, dass sich immer irgendwas finden lässt – irgendein Job. Chris fehlt diese Sicherheit offenbar vollständig.
„Okay Meister, wir müssen mal wieder los.“ Diesmal kommt er freiwillig in meine geöffneten Arme und drückt mich lange. „Pass auf dich auf, ja?“, sagt er dann, und sieht mich dabei so eindringlich an, dass mir klar wird: Das ist nicht bloß ein Spruch. Ich nicke, schlage ihm auf die Schulter, um die Umarmung zu beenden.
Manu umarmt ihn ebenfalls, und ich denke kurz darüber nach, warum Männer Frauen so viel schneller umarmen als andere Männer. Bevor ich zu einem Ergebnis kommen kann, befinde ich mich mit ihr auf dem Weg zum Motorrad. Chris ist nach drinnen verschwunden.
„Das ist doch cool. Ich hatte schon befürchtet, wir bekommen die Nummer der Familie nicht. Ist das legal? Also dass er uns die gegeben hat?“
Ich reiche ihr ihren Helm und grinse. „Nein, ist es nicht. Aber da es schon nicht legal war, Tiger überhaupt nach Hamburg zu schicken …“ Ich zucke mit den Achseln. „Chris wusste damals, dass Tiger die Unterschrift gefälscht hat. Das macht den Braten jetzt auch nicht mehr fett. Wollen wir los?“
Sie nickt und wartet kurz, bis ich den Ständer umlege und aufsteige, bevor sie hinter mich klettert.
„Wohin? Zu dir?“, frage ich durch das geöffnete Visier. Sie lacht. „Was meinst du - zu dir oder zu mir? Naja, in deine Wohnung können wir ja schlecht – also zu mir.“ Sie sieht aus, als ob ihr die Bemerkung leid tut. Meine erste Reaktion darauf ist Schmerz, aber ich reiße mich zusammen, um ihr das nicht zu zeigen. Eigentlich bin ich dankbar für die Leichtigkeit, die sie mir von Zeit zu Zeit anbietet. Und ich wäre ein Trottel, wenn ich diese hellen Momente für weitere Dunkelheit, Trauer und Hilflosigkeit eintauschen würde. Ich verziehe das Gesicht zu einem halben Lächeln und trete den Motor an.
Kurz darauf weben wir uns unseren Weg zurück nach Kreuzberg.

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