Carla

Text

von  Zeder

Heute morgen hat sie ihre helle Weste gegen eine neue Seidenbluse eingetauscht. Der Stoff legt sich leicht um ihre Haut und trägt sich kühl. Und während sie sich von der einen in die andere Richtung wendet, ist ihr ein wenig als tanze sie in der Bahnhofshalle. Wenn sie eine Tänzerin wäre, hätte sie vielleicht heute Abend einen Auftritt in dieser Stadt, mit einem Kostüm im Gepäck, in Plastik verpackt. Sie hätte ein Ziel, kein Zögern. Die Tüte würde knistern, wenn sie später mit tanzenden Fingern das Kostüm anlegen würde, danach würde sie abwechselnd das Gewicht von den einen auf den anderen Fuß verlagern, einige Schritte vollziehen und danach ihre Umkleidekabine verlassen. Hinter dem Vorhang würde sie dem gedämpften Gemurmel von Zuschauern zuhören, die ihre Plätze suchen, die seltsame Athmosphäre, die ein solche Saal mit sich trägt, würde sich auch auf sie legen und besser: Sie hätte die Athmosphäre mit kreeiert, denn hier trägt jeder sein Kostüm. Nicht im Tanz- aber im Bahnhofssaal versucht sie sich für eine Richtung zu entscheiden. Ihr ist hier nichts bekannt, nichts vertraut, auch wenn sich alle Bahnhöfe darin ähneln, dass sie den selben Zweck erfüllen. Sie hat einmal ein Jahr lang einen teuren Ring an einem ihrer Finger getragen. Er war ein wenig so wie eine Einkaufstasche, die zum Ende des Weges immer schwerer und dann auf den letzten Stufen ein unerträgliches Gewicht wird. So zog sie dieser Ring irgendwann wie Blei zu Boden, er wuchs und wuchs, bis sie ihn abstriff und er mit einem Knall ein Loch in den Boden vor ihr riss. Ihre Welt wankte, doch sie hört auch noch das eigene Aufatmen darunter und fühlt ihr Herz springen und stechen und nach Atem ringen, denn das Herz erinnert sich meist leicht.
Früher hat Helen am Leben gehalten, dass zu jeder Zeit überall die Möglichkeit bestand etwas zu verändern, in irgendeinen Zug zu steigen, an irgendeiner Ecke abzubiegen, die große Welt der Möglichkeiten oder die Möglichkeit sich für alles zu entscheiden. In Gedanken ist diese Welt unendlich und man versteht seine eigenen Grenzen nicht: Dass die Möglichkeit zur Entscheidung keine Entscheidung ist bemerkte sie nicht, vielmehr neigte sie dazu sich nicht zu entscheiden.
Helen reibt die leeren Finger aneinander und belächelt sich für das, was sie früher war. In dem Café in dem sie sitzt bedeutet das sich Entscheiden Freiheit, sonst säße sie nicht hier. Wir streben oft von einem Extrem ist das andere, es flüchtet sich so schön. Die Gäste wechseln paarweise.
Helen lügt nicht mehr. Sie hat die Leichtigkeit der Wahrheit und der Nacktheit begriffen. Ich bin wie ich, denkt sie.
“Du bist so wortlos”, hört sie noch im Kopf wie ein leises Echo. Wenn Wortlosigkeit eine Krankheit wäre... Wenn nicht alles aus einem Blickwickel eine Krankheit ist.
Einmal stand Helen auf der Straße und sah ihr Haus, oder das, in dem sie lebte, in Flammen aufgehen. Nach und nach fraßen sie sich gierig durch das Holz - wie laut Feuer ist hat sie erst dort bemerkt, es trägt den Klang von Zerstörung. Sie dachte erst: Meine Bücher, und dann ließ sie alles los, ließ alles in die Glut fallen wie als wenn man etwas in das fließende Wasser wirft oder wenn man jemandem sagt, dass man ihn liebt. Sie verlor nichts an dem Tag.
“Ich habe deine Augen erkannt, als ich dich sah. Du warst es, der mich ansah, als ich aus dem Bauch meiner Mutter geschüttelt wurde.” Oder sah ich in den Spiegel?
“Danke, Helen, ich trinke heute kein Bier, ich trinke dein Blut, wenn ich darf, deine Gedanken, dein Haar, dein Herz.” Nimm dir, was du brauchst, hätte Helen früher gesagt, heute sagt Helen: Ich sehe nicht dich, ich sehe mich.
“Hast du einen neuen Haarschnitt? Irgendwas ist verändert an dir!”
Ich habe ein neues Leben! Ich nenne mich Carla, weil das dir spanisch klingt und weil ich eine Pflanze hatte, die ich so nannte und sie das einzige war, das ich zum wachsen brachte.
“Leb wohl, Helen.”

Ich hänge im Nichts zwischen den Orten und höre mich lauter als all das andere. Die Geräusche verstillen wie in Schnee gepresst, die Zukunft nickt lächelnd in der Ferne und ich streife mit jedem Schritt eine alte Schicht Kleidung ab. Irgendwann werde ich nackt sein (und vor Gott stehen).

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