volle leere

Text

von  poena

durch die scheibe kann ich diese frau in der anderen u-bahn sehen. sie sieht nett aus. freundlich. und sehr ernst. ihre brust hebt sich mit einem riesigen seufzer. ich sehe, wie sie mit vorgewölbter unterlippe langsam ausatmet. ihre augen sind gerötet… und während der zug losfährt und diese frau und alle anderen menschen als bunte farbstreifen durch meine pupillen zieht, verwischt sie eine träne mit ihrem schal.

ich gehe zu fuß durch die innenstadt. es ist nun abends bereits warm genug für die junkies und spät genug für die trinker. der ist alt und ungepflegt. er steuert mich quer über die fußgängerzone an, lallt. ich  ändere die richtung, will nicht mit ihm zusammenstoßen. er folgt meinem haken, sein blick ist aufsässig. dass ich nichts mit ihm zu tun haben möchte, macht ihn wütend. ich sehe es in seinen augen. er sieht auch etwas in meinen, das ich erst bewusst spüre, als er in der selben sekunde wortlos abdreht und mich lässt.

„alle gehen nun su ihrem partner.- wer ist übrig?“ ich. meine kollegin, wegen der ich hier gelandet bin, drei andere frauen. wir zeigen auf. wieder einmal. für den tanzlehrer ist das „alles kein problemo,ichä kann auch gut mitäh swei oder auch drei frauen gleichseitig, hähähä.“ das finde ich heute nicht wirklich witzig. die tanzschule wirbt damit, aushilfstänzer für singles zu organisieren. aber das hat mal wieder nicht geklappt.
wir beschließen zu gehen.
die organisatorin an der garderobenbar ist ein bisschen bestürzt, versucht es mit den worten: „schau, da sitzt ja schon ein profitänzer für eine von euch, vielleicht könnt ihr ihn überreden?“ „nein danke.“ ich werde niemals mehr jemanden zu überreden versuchen, auch nur i.r.g.e.n.d.e.t.w.a.s mit mir zu tun. ich denke, dass ich das nicht nötig habe. nein. ich hole meinen mantel, verabschiede mich. die kollegin bleibt nun doch, jetzt, wo der tanzlehrer ... . „och schade“ sagt sie, „hast du jetzt die lust verloren?“
ja. hab ich. nachhaltig.
„und nächste woche braucht ihr mir keinen herrn zu organisieren. ich komme nicht mehr.“

bis zur letzten stufe gehe ich stolz und aufrecht… dann brauche ich ein taschentuch.

gottseidank ist die straße leer. es sieht blöd aus, wenn man heulend aus einem tanzlokal kommt. ich gehe die schatten entlang. wo sie enden, kehre ich mich, immer weiterheulend, in immer kleinere gässchen. ich möchte mich irgendwo hinsetzen und mich laut schluchzend zur ruhe weinen. alleine. aber es sieht blöd aus, wenn man das in meinem alter macht. die leute denken dann, man hat einen todesfall und bemühen sich. oder man wird für betrunken gehalten. oder alle denken, man hat liebeskummer.
jetzt hört es gleich gar nicht mehr auf zu weinen. es sieht blöd aus, wenn das einzige taschentuch nass geheult ist und man sich unauffällig in den ärmel wischen muss. es ist auch blöd, allein zum tanzen zu gehen. es ist schrecklich, irgendwelche saturierten saftsäcke aufzufordern. es ist elend von solchen taxiert zu werden, bevor sie zustimmen. es ist elend von taxierenden männern zum tanzen ausgesucht zu werden. es ist elend, allein zu sein. es ist elend, allein zu weinen.
ich will nicht von fremden bemitleidet werden. ich will überhaupt nicht bemitleidet werden. das habe ich auch nicht nötig. nein. ich will nicht höflich, es geht schon, danke, sagen müssen. ich will nicht überlegen, wen ich anrufen kann, um ins telefon zu weinen und schluchzend das elend solchen unsinns zu bestottern. aber ich habe es getan. ich habe telefoniert. öffentlich weinend und stotternd, aber nicht so elend wie allein.


Anmerkung von poena:

vorher konnte ich nicht in die u-bahn steigen, nett aussehen und als vorlage für einen text über komische tage und traurige menschen herhalten.

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