Was bleibt

Kurzprosa zum Thema Allzu Menschliches

von  Vessel

Der Sarg erschien mir zu klein als er vor uns aufgebahrt war. Bernadette lehnte sich an meine Schulter, sie weinte. Sonnenlicht fiel durch die schmalen Scheiben der Friedhofskapelle. Die Essigbäume vor den Fenstern hatten welke, braune Blätter, weil es seit Wochen nicht regnete.
In einem Film würde es jetzt regnen, dachte ich. Im Raum war es kühl, fast kalt und sehr still.
Der Priester hielt eine kurze Rede. Bernadette und ich hatten uns für Jahre nicht gesehen. Als ich sie das letzte Mal sah, waren ihre Haare kurz. Jetzt trug sie einen Zopf - Die Tochter hatten ihn geflochten, erzählte sie später.

Du weinst nicht, sagte Bernadette und ich sagte, Tränen ändern nichts. Du standest Mutter näher.
Sie fragte mich, was ich die Jahre über so gemacht habe.
So dies und das, sagte ich, nichts wichtiges.
Dann stellte sie mir ihre Tochter vor. Ich sei nie dagewesen. Als sie eingeschult wurde, oder Ballettaufführungen hatte – Bernadette hatte mir geschrieben, ich sagte meist nicht einmal ab.
Eine schöne Tochter hast du, sagte ich. Bernadette lachte.
Johann sagt, sie kommt ganz nach mir. Du warst wie vom Erdboden verschluckt.
Ich war beschäftigt, sagte ich.
Sie fragte, ob ich eine Freundin habe und ich verneinte. Nichts festes.
Willst du keine Kinder?
Ich habe alles, was ich brauche.
Es muss ja nicht immer so weitergehen. Willst du nichts ändern?
Es läuft gut.

Am Abend ging ich mit in ein Restaurant, einige Trauergäste kamen. Ich kannte die meisten nicht, Bernadette stellte sie mir vor. Entfernte Verwandte und alte Freunde der Familie. Einige erkannten mich, sie fragten, ob ich sie noch kenne und ich sagte, natürlich. Und lachte. Sie lachten auch. Die Situation war mir peinlich.
Johann war bei einer Versicherungsgesellschaft tätig, er erzählte von der Arbeit. Bernadette schien ihm kaum zuzuhören, die Tochter spielte zusammen mit anderen Kindern auf dem Fußboden. Ein Kellner hatte Ausmalbilder gebracht und Filzstifte. Die Kinder malten ungenau und hastig. Ein Mädchen fing an zu weinen, die Mutter stand auf, nahm das Kind bei der Hand und verabschiedete sich schnell. Johann interessierte sich besonders für meine Arbeit, immer wieder fragte er nach Details und ich sah mich gezwungen, komplizierte Zusammenhänge zu erklären. Bernadette sagte, dass ich schon immer ein kluges Kerlchen gewesen sei, und Johann lachte. Er hatte dünnes Haar, seine Haut war sehr hell. Ich solle doch bei ihnen übernachten, bot er an und ich sagte, ich habe schon ein Zimmer bezahlt.

Es war nicht sehr spät, die Gäste gingen nacheinander. Die Tochter kam zu ihrer Mutter an den Tisch und saß unruhig auf dem Stuhl, aber sie sagte nichts. Im Lokal war es still geworden.
Ich gehe jetzt auch, sagte ich. Bernadette stand auf und umarmte mich. Ich habe dich vermisst, sagte sie, ich hoffe, du mich auch ein wenig.
Johann schüttelte mir die Hand.
Ich setzte mich draußen auf eine kleine Mauer vor dem Restaurant und rauchte. Irgendwo zirpte eine Grille, das Geräusch wurde von den Hauswänden zurückgeworfen, es erschien mir unnatürlich laut.

Es regnete am nächsten morgen. Ich fuhr zum Haus meiner Eltern, in dem Bernadette mit ihrer Familie wohnte. Ich überlegte, einfach wieder zu fahren.
Ich stieg aus und klingelte. Es hatte sich nichts verändert, die meisten Möbel standen, wo sie schon immer standen. 
Es muss sich anfühlen, wie heimkommen, sagte Bernadette.
Sie sagte, du hast bestimmt noch nichts gegessen und führte mich ins Esszimmer. Dort saßen Johann und die Tochter am gedeckten Tisch.
Ich wusste nicht, ob du lieber süß oder herzhaft isst, sagte sie. Deswegen habe sie beides hingestellt.
Die Tochter sagte hallo, dann sah sie weg, als habe sie eine Aufgabe erfüllt. Wir aßen schweigend. Dann begann Johann von Sturmschäden und Hagel im Ausland zu erzählen.
Die haben das Wetter, das uns fehlt, sagte er.
Wir bräuchten wirklich ein wenig Regen, sagte Bernadette. Diese Trockenheit ist für die Pflanzen nicht gut, sie kann auch für die Menschen nicht gesund sein.
Nach dem Essen sagte Bernadette, dass mir die Tochter ihr Zimmer zeigen möchte. Es war Bernadettes Kinderzimmer. An der Wand hingen Poster von Prinzessinnen und die Tochter nannte ihre Namen oder die Namen der Zeichentrickserien und Filme denen sie entstammten.
Ich fragte, ob sie später einmal Prinzessin werden wolle und sie sagte, das ginge doch gar nicht.
Doch, wenn du einen Prinzen heiratest.
Ich will nicht heiraten.

Bernadette ging später mit mir in den Garten. Das sei ihr Reich, sie lachte, wie früher Mutters. Nur den Rasen mähe Johann. Die große Eiche, die zu meiner Kindheit im Garten nebenan stand, war gefällt worden.
Nach einem Unwetter, sagte Bernadette. Äste haben eine Garage zertrümmert und die Frau des Nachbars entschied, dass der Baum zu gefährlich war.
Bernadette bat mich, noch ein paar Tage zu bleiben, aber ich sagte, ich müsse weg, ich habe Termine.
Ich möchte mich von Johann scheiden lassen, sagte Bernadette leise. Manchmal denke ich, ich halte es keinen Tag mehr aus.
Warum erzählst du mir das?
Du bist mein Bruder.
Sie brauche Geld, sie arbeite nicht, und in ihrem Alter sei es schwer wieder an Arbeit zu kommen. Sie bat mich, ihr einen größeren Teil des Erbes zu überlassen als vorgesehen.
Wie du willst, sagte ich. Mir liegt nichts am Erbe.
Wir gingen ins Haus zurück und Bernadette rief ihre Tochter, sie solle auf Wiedersehen sagen. Bernadette und Johann begleiteten mich zur Tür.
Als ich ins Auto stieg, sah ich noch einmal zurück. Johann war schon im Haus verschwunden, Bernadette winkte. Ich fuhr an.

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Kommentare zu diesem Text

Helix (39)
(27.10.11)
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 Vessel meinte dazu am 27.10.11:
danke!
fragilfluegelig (49)
(27.10.11)
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 Vessel antwortete darauf am 27.10.11:
oh, dieser kommentar macht mich sehr froh! :)
ich versuche meine geschichten aus der ambivalnz eines ichs heraus zu gestalten, der die attribute eines außenstehenden erzählers und beobachters hat. das mehr dahinter ist und ob und wie, das möchte ich dem leser überlassen und es ist schön, dass es so gut funktioniert! vielen dank für deinen kommentar!
fragilfluegelig (49) schrieb daraufhin am 28.10.11:
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fragilfluegelig (49) äußerte darauf am 28.10.11:
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 Songline (27.10.11)
Warum liest man so einen Text bis zum Schluss? Weil der Wiedererkennungswert so hoch ist.
Das Geschehen läuft vor dem Auge des Protagonisten wie ein Film ab, in dem er Zuschauer, aber nicht Beteiligter ist, obwohl sich alle bemühuen, ihn einzubeziehen. Dass dies nicht gelingt, liegt nicht am Protagonisten, sondern daran, dass die übrigen in ihrer eigenen Welt leben und an seiner nicht wirklich interessiert sind, sondern die Kommunikation nur Mittel für ihre Zwecke ist.
Und darum bleibt nichts.
Toll geschrieben.

 Vessel ergänzte dazu am 28.10.11:
eine kommunikation findet vielleicht gar nicht statt, alle reden und reden, aber eigentlich sagen wir nichts, wir sind verstummte, verloren in der leere um uns und in uns. dabei reichen oft wenige worte über vieles hinweg - und: vielen dank, songline, für deine kleine interpretation und das kompliment!
ues (34)
(30.10.11)
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 Vessel meinte dazu am 31.10.11:
Eine Steigerung von mal zu mal, mehr kann ich nicht wollen. Dein Kommentar freut mich sehr! Ich lächle auch. Und tue das leider nur selten diesertage ...
ues (34) meinte dazu am 31.10.11:
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 Vessel meinte dazu am 31.10.11:
nun, okay, ja, so, hm, aaah - da ist es, das lächeln. das eeerste maaal. manchmal habe ich probleme etwas zu schreiben, dann mach ich einen song draus - das klappt gut.
ues (34) meinte dazu am 01.11.11:
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 Vessel meinte dazu am 01.11.11:
und weil es mir doch ganz genau so geht, schreibe ich den song, der mich dann zum schreiben bewegt *g
ues (34) meinte dazu am 01.11.11:
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 Vessel meinte dazu am 01.11.11:
schön, dass der song dir gefällt, der ist schon quasi so eine art durchdentagbringer für mich, weil er immer so ist, wie ich es gerne hören möchte, das geht.. irgendwie.. so tief. tips in diese richtung der musik freuen mich immer, dein song ist klasse, werde ich mir merken :)
ues (34) meinte dazu am 02.11.11:
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Fremdkoerper (33)
(03.11.11)
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 Vessel meinte dazu am 05.11.11:
wie ein ausmalbild. die farben sind die, des lesenden ... vielen dank, monsieur jungautor!
Savignon (26)
(26.11.11)
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 Vessel meinte dazu am 27.11.11:
Ein bisschen bin ich ja schon auch stolz, solche Kommentare zu bekommen :)
Gerade weil hier oft nicht mehr als recht aussagelose "gefällt" oder "gefällt nicht" Statements abgegeben werden. Ich schreibe das selbst ja auch viel zu oft als Kommentar.
Überhaupt, dass jemand meine Texte liest und darüber nachdenkt, obwohl, wie du richtig anmerkst, meist eine Pointe fehlt oder die Spannung allgemein, ich habe dann eigentlich schon fast alles erreicht damit, was ich wollte.
Manuel.Tráfago (37)
(15.01.12)
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 Vessel meinte dazu am 23.01.12:
danke!
Fibo (24)
(23.01.12)
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 Vessel meinte dazu am 23.01.12:
lücken hinterlassen soll es, die es zu füllen gilt. ich freue mich sehr über deine einschätzung!

 larala (12.07.13)
Gefällt mir.
Hinterläßt ein Gefühl von Stille mit all sein Facetten.

 Vessel meinte dazu am 23.11.15:
danke für die erneute empfehlung :) seit 2013 hat sich an dem text sicherlich einiges getan, ich hoffe, er hat sich zum positiven entwickelt!
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