Ein Schluck Wasser in der Kurve

Kurzgeschichte zum Thema Mensch und Natur

von  Judas

An diesem Morgen wollte ich nur die Zeitung ins Haus holen. Ich vermied es, auf die Straße zu gehen. Schon seit Jahren – tat es nur, wenn unbedingt notwendig, wenn unausweichlich.
Ich ertrug den Anblick einfach nicht.

Ich durchblätterte die Zeitung, wartete auf den Kaffee. Die medialen Marktschreier hatten wieder jemanden gefunden, über den sie schreiben konnten. Offenbar ging's in einem Artikel um die heutige, menschliche Fortpflanzung. Einer Frau wurde darin Menschenhass vorgeworfen, Homophobie, Technikfeindlichkeit, klerikaler Faschismus. Weil sie dem heutigen Weg nicht zustimmte. Ich trank einen Schluck Kaffee. Unter Faschismus geht heute gar nichts mehr, dachte ich mir und warf die Zeitung meinem Hund zum Fraß vor.

Der gehörte noch zu den normalen Hunden. Ich habe ihn nicht bauen lassen oder erzüchtet, ich fand ihn als Welpen vor drei Jahren in meinem Garten. Er hat es gut, dachte ich mir, als ich ihm zusah, wie er die Zeitung spielerisch vernichtete. Tiere leben einfach, aber wir Menschen, wir passen irgendwie vorne und hinten nicht in diese Welt. Wir sind ein biologisches Sonderproblem.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als mir unangenehm auffiel, dass die Gardinen  meines Küchenfensters nicht zugezogen waren. Und bevor ich diesen Missstand beseitigen konnte, musste ich meinen Nachbarn in seinem Garten sehen, wie er mit seinen beiden platinblonden Söhnen „perfekter Sonntag“ spielte.
Ich hasste seine verschissene Brut aus Halbwesen, ich konnte mich dieser Verachtung nicht erwehren. Ich wusste, die Kinder konnten nichts dafür, aber meine Abscheu war stärker als die Vernunft.

Ich zog die Gardinen rasch zu und schaute die hunderzerfetzten Zeitungsschnipsel an. Hund wedelte freudig, ja stolz mit dem Schwanz. Wie im Traum begann ich die Schnipsel aufzusammeln. Ich dachte an Mutter. 50 Prozent der Menschen sterben heute in Krankenhäusern. Weitere 40 Prozent in Pflegeheimen. Wir kontrollieren Geburt und Tod gleichermaßen.
Der Mensch ist zum Schöpfer seiner Selbst geworden. Mit diesem Gedanken, verankert in meinem Hirn, tunkte ich wie jeden Morgen die Zeitungsreste in flüssigen Leim und klebte sie an die Pappmaché-Figur, welche seit Wochen auf meinem Küchentisch wuchs.
Mein Hund bellte aufgeregt und auch ich hörte das Schlagen der Pferdehufe auf Asphalt. Bekümmert erstarrte ich in meinem Handeln, denn ich wusste, was der Lärm zu bedeuten hatte.

„Es tut mir Leid.“, sagte ich zu meinem Hund und kraulte ihn hinterm Ohr. „Ich ertrage diese Scheiße nicht mehr.“ Jeden Morgen trampelten die Zentauren durch die Straße, jeden Morgen sah ich in der Zeitung die Gesichter von Menschenaffen und Klonen, jeden Morgen las ich die Nachrichten über die positive Menschenzucht, jeden hässlichen Morgen sah ich die Fratzen der Halbwesen; halb Mensch, halb künstliches Ich-weiß-nicht-was.

Ich starrte, eine lose Träne im linken Auge, den Homunculus auf dem Küchentisch an.
„Ich kann nicht mehr.“, flüsterte ich meinem Hund zu und griff in den Schrank.
Ein leises Winseln begleitete mich, als ich auf dem Küchenboden kauerte. Ich sah zu meinem Hund und sagte: „Die Tür zum Garten steht offen. Es tut mir so Leid.“


Anmerkung von Judas:

Eine Kurzgeschichte durchaus mit Parabelcharakter.
Anlass gab Sibylle Lewischaroff, einige Ausdrücke im Text sind ihrer Worte entlehnt und zwar folgende:
"meine Abscheu war stärker als die Vernunft."
"Halbwesen; halb Mensch, halb künstliches Ich-weiß-nicht-was."

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Kommentare zu diesem Text


 Rudolf (17.04.14)
Deine Geschichte fokussiert auf die niedergehende westliche Zivilisation. Alles ist sehr zivilisiert, aber unfruchtbar. Das Leben wartet in Nordafrika auf die Überfahrt - steht auch in der Zeitung, die Dein Hund zerfetzt hat, was wegen der Druckerschwärze sehr ungesund ist ...

 Judas meinte dazu am 17.04.14:
Da hast du mit allem Recht, nur mit einem nicht. Ist nicht mein Hund, ich hab keinen Hund ;)
Vielen Dank für deinen weitergedachten Kommentar, Rudolf :)
Mondscheinsonate (39)
(29.06.14)
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 Judas antwortete darauf am 29.06.14:
Vermutlich nicht, wenn Herrchen nicht mehr vor die Tür will. Aber jetzt kann Wauzi wohl für immer spazieren gehen... wie auch immer man das auslegen will.
Vielden Dank für deine lobenden Worte :)

 DerHerrSchädel (13.07.14)
Sehr interessanter Text mit vielen guten Ideen!

Zwei Anmerkungen:

1. Du bist ein bisschen deftig in deiner Wortwahl, sei ein bisschen subtiler ein Beschreibung dessen, was du so verabscheust und nicht einfach raus, dass es scheiße ist. Der Trick ist, im Leser den Abscau zu wecken und nicht, es ihm einfach zu sagen.

2. Das mit dem Hund. Drückt zu sehr auf die Tränendrüse. Mit süßen Tierchen arbeitet jeder zweite Hollywoodfilm.

Aber ansonsten eine sehr interessante Dystopie, diegeschickt den Bogen zur Fantasy schlägt. Gefällt!

Viele Grüße

DerHerrSchädel

 Judas schrieb daraufhin am 13.07.14:
Hallo! Vielen Dank für deinen Kommentar.
Zu deinem Punkt 1:
Ich distanziere mich von der Wortwahl und dem Hass meines lyr. Ichs :)
Zu deinem Punkt 2:
Stimmt. Aber er hat auch seine Berechtigung in der Geschichte als eben unmodifiziertes Lebewesen. Eine Idee, wie man ihn ersetzen konnte?

 DerHerrSchädel äußerte darauf am 13.07.14:
Zu Punkt Eins:

Schon klar. Ich finde eine nur, dass eine etwas mehr nüchterne Sprache viel kälter und härter wirkt als dieses sehr direkte drauflosholzen deines lyr. Ichs.

In meiner Prosa, die ich hier noch nicht veröffentlich habe, kamen bisher Haustiere gar nicht oder nur am Rande vor. Ich finde den Niedlichkeitsfaktor störend. Der Hund hat hier natürlich eine wichtige Funktion als "natürliches" Lebewesen (obwohl viele Hunderassen ja auch ganz schön überzüchtet sind). Würde beim Schluss mehr beim lyr. Ich bleiben... er rennt aus dem Haus und wird von einem Zentauren überrannt oder bemerkt, dass er selbst nur ein Hybridwesen ist und fliegt davon... Letzteres gefält mir grade sehr gut;-)

 Judas ergänzte dazu am 13.07.14:
Klar, in manchen meiner Texte nehme ich auch lieber eine nüchterne Sprache. Hier hielt ich es aber für angebracht, da es ja auch keinen auktorialen Erzähler gibt und der Ich-Erzähler eben wirklich verdeutlichen will "Meine Abscheu ist stärker als die Vernunft". Dass das wirkt, siehe Kommentar von b-site.
Es freut mich aber, dass du dich mit meinem Text beschäftigt hast und denke auch gerne über deine Hinweise nach, vorallem bezüglich des Hundes :)
Das Ende lass ich aber doch ganz gerne so offen. In deiner Vorstellung als Leser ist immer noch genug Platz dafür, dass er raus geht und wegfliegt.
Bei einem anderen wird der Golem/Homunculs auf dem Tisch vielleicht wach und tötet alle Anwesenden.
Beim nächsten hat lyr. Ich die Schlaftabletten aus dem Schrank geholt und sich 'ne Überdosis verpasst.
Usw. usf... :)

 DerHerrSchädel meinte dazu am 13.07.14:
Schlaftabletten, wie prosaisch
B-Site (30)
(13.07.14)
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 Judas meinte dazu am 13.07.14:
Hallo du, freut mich, dass du das so siehst, denn genau das wollte ich erreichen :) Das war ja auch der Grund dafür, dass ich einen Ich-Erzähler wählte, der auch noch von Abscheu und Hass durchdrungen ist. Man muss ihn nicht verstehen, aber wenn man sich einfühlen kann, finde ich das großartig.

Und dass wir alle Experimente von Außerirdischen sind, das ist ja eh klar ;D

 Jericho (12.06.15)
"Einer Frau wurde darin Menschenhass vorgeworfen, Homophobie, Technikfeindlichkeit, klerikaler Faschismus. Weil sie dem heutigen Weg nicht zustimmte."
Sad but true...

 Judas meinte dazu am 12.06.15:
siehe Kommentar von JamesBlond: das ist ja wirklich erst passiert vor gar nicht lange her. Ich sage nicht, dass Sybille Recht hat mit dem, was sie sagte (war echt harsch halt) aber wie die Medien antworten, ist oft gruselig.
JamesBlond (63)
(12.06.15)
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 Judas meinte dazu am 12.06.15:
Hey, vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar!
Du hast natürlich Recht, der Text stellt diese Frage nicht und ist auch nur indirekt im Sinne jeder Halbwesen-Debatte zu begreifen. Er erzählt aus einem anderen Blickwinkel in einer fiktiven Zeit oder Welt oder wasauchimmer. Es war auch nie mein Ziel, hier Anworten auf so schwierige, ethische Fragen zu geben, sonern eine Kurzgeschichte zu erzählen über ein auserwähltes Individuum, welches sich Gedanken macht. Und ich hoffe natürlich, dass der Leser immer für sich was zum Nachdenken mitnehmen kann, sich selbst die Fragen stellt. Natürlich sind Klone, Zyklopen, Zentauren und Homunculi extreme Beispiele von "Halbwesen", aber deren Existenz (im Volksglauben, in Religion usw) zieht sich eben auch sehr beständig durch die menschliche Kultur, was eben schon irgendwie beachtlich und faszinierend ist.

Lange Rede kurzer Sinn, schade, dass der Text nicht in eine von dir erwünschte Richtung geht, aber ich finde deinen Kommentar trotzdem klasse.

Gruß!
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