Der alternde König beginnt zu lesen

Fabel zum Thema Macht

von  EkkehartMittelberg

Der Löwe hatte immer mit harter Pranke regiert und glaubte sich den Luxus des Lesens nicht leisten zu dürfen, weil es ihn von wichtigen Regierungsgeschäften abhalten würde.

Gerade hatte er seine Nachfolge geregelt und meinte jetzt, es sich erlauben zu können, sich lesend davon ein Bild zu machen, worüber seine Höflinge tuschelten, wenn sie glaubten, vor seinen Ohren sicher zu sein.

Da er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit zur Lektüre blieb, forderte er seinen Thronrat auf, ihm geeigneten Lesestoff zu empfehlen.

Der Pfau wagte sich als Erster zu äußern. Er schlug mit seinem Gefieder ein prächtiges Rad und sagte: „Durchlaucht, ich empfehle Euch die Tagebücher des kürzlich verstorbenen Feuilletonisten Fritz J. Raddatz, der alle bedeutenden Literaten seiner Zeit kannte und amüsant über deren Eitelkeiten und seine eigenen zu plaudern wusste.“

Dem bedächtigen Dachs fiel sofort auf, wie unvorsichtig der Pfau gewesen war, dass er das Wort „Eitelkeit“ in Anwesenheit des Herrschers erwähnt hatte, und er wollte es besser machen. Eines hat der Pfau aber erkannt, dachte er. Vielleicht kann man den Monarchen über sein Bedürfnis nach Lektüre so verändern, dass er vergisst, uns ständig zu kontrollieren. So legte er seine Stirne in Falten tiefer Nachdenklichkeit, kratzte sich bedächtig den Bart und sprach mit demütig gesenkter Stimme:
„Serenissimus, Ihr habt in Eurem Leben für das Wohl des Volkes gearbeitet wie kein anderer. Nun hätte ein jeder Verständnis, wenn Ihr einmal untätig wäret und die Früchte Eurer Fürsorge genießen würdet. Ein gewisser Russe, namens Gontscharow, hat eine fesselndes Buch über die kreative Trägheit seines Helden „Oblomow“ geschrieben. Ich könnte mir vorstellen, dass auch Ihr Euch einmal in göttlicher Untätigkeit der philosophischen Betrachtung hingebt.“

Die kluge Schlange hatte die Absicht ihrer Vorredner sofort durchschaut, fand aber, dass auch der Dachs mit dem Risiko spielte, wie geschickt er auch den Begriff Faulheit mit Euphemismen zu verschleiern suchte. Sie jedoch würde dem Diktator das Gefühl geben, der Größte zu sein. Also reckte sie ihr Haupt in die Höhe, züngelt sich über das Maul und versuchte ihr Zischeln mit wohltönender Stimmer zu verbergen. „Erhabener“, hub sie an, „Eurer Würde entspräche nur eine Lektüre, die allen Dingen auf den Grund geht, um sie harmonisch zusammenzufügen. Ein deutscher Dichter und Philosoph, der unvergessene Johann Wolfgang von Goethe, den sein Herzog wegen seiner Klugheit Freund nannte, hat mit seinem „Faust“ einen Helden geschaffen, dessen Thema kein geringeres ist als das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Kann es etwas geben, das Eures rastlosen Forscherdrangs würdiger wäre?“

Der Fuchs konnte sich während dieser Ausführungen ein sekundenlanges Grinsen nicht verkneifen, fasste sich aber sofort wieder, blickte demütig zu Boden und sprach mit tiefernster Miene: „König aller Könige, jeder gerecht Denkende wird Euch eine Ablenkung nicht missgönnen. Doch Ihr verseht das schwierigste Geschäft auf Erden und denkt zum ersten Mal darüber nach, wie Ihr das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden könnt. Keiner hatte so viel Verständnis für die Berechtigung und Lust der Ausübung weiser und dem Volke dienender Macht wie der selbstlos seinem Herrscher zugetane Florentiner Niccolò Machiavelli, der nichts anderes im Sinne hatte, als das Regiment seines Herrschers gegen alle Gefährdungen der Missgunst abzuschirmen und zur höchsten Blüte effektiver Regierungskunst zu führen. Als er sein Werk “Il Principe“ verfasste, muss er Eure unübertrefflichen Fähigkeiten vor Augen gehabt haben, und in Euch wird er den kongenialen Leser finden, der seine Theorie in Praxis verwandeln wird.“

Der Löwe war schnell zu einem Beschluss gelangt, welches Werk er lesen würde, doch er ließ seine Höflinge lange in peinvoller Ungewissheit schmoren. Als er ihnen schließlich seine Wahl verkündete, klopften ihre Herzen vor Furcht, nur der Fuchs war relativ gelassen.

Der König ließ dem Pfau seine Federn abrasieren, sodass er nackt und bloß wie eine dumme Gans dastand. Er verdoppelte das Arbeitspensum das Dachses und kürzte sein Gehalt. Er wusste, das ihm die Schlange recht geschickt geschmeichelt hatte, aber er legte ein Eisenband um ihr Haupt, auf dass sie es niemals wieder ungebührlich erheben würde.
Er ernannte den Fuchs zum Vorsitzenden des Thronrats. Machiavelli aber hatte den König gelehrt, dass er ihn durch einen zweiten Fuchs beschatten ließ; denn er wurde in seinem alten Grundsatz bestärkt, keinem zu vertrauen außer sich selbst.

© Ekkehart Mittelberg, März 2015

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(06.03.15)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.03.15:
Graeculus, ich nehme es als Kompliment, dass du geahnt hast, die Fabel würde auf Machiavelli hinauslaufen. Sie muss also folgerichtig aufgebaut sein. Danke.
AbrakadabrA (45) antwortete darauf am 06.03.15:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 TrekanBelluvitsh (06.03.15)
Lesen bringt nur Ärger. Wann werden die Menschen das endlich begreifen...
;-)

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 06.03.15:
Danke, Trekan. Ich mag humorvolle Kommentare, die bewusst so tun, als hätten sie den Autor nicht verstanden.
Silvi_B (48)
(06.03.15)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 06.03.15:
Merci, Silvi. Mir scheint, dass es uns mit der Lektüre anspruchsvoller Literatur nicht anders ergeht als mit dem Lesen von Zeitungen. Wir bevorzugen meistens den Lesestoff, der uns in unseren verfestigten Ansichten bestätigt.

LG
Ekki

 AZU20 (06.03.15)
Das hat mir beim Lesen immer besser gefallen. LG

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 06.03.15:
Das freut mich, Armin. Danke.

LG
Ekki

 tueichler (06.03.15)
Sauber fabuliert!

VG, Tom :)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.03.15:
Ich habe mir Mühe gegeben. Merci, Tom.

LG
Ekki
Agneta (62)
(06.03.15)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 06.03.15:
Gracie, Agneta. Wer mag schon machtgeile Herrscher? Sie werden zu Recht moralisch abqualifiziert, obwohl Herrschaft ohne ein positives Verhältnis zur Macht undenkbar ist. Wer mit Machtgeilen zu tun hat und ihre Wirkung einschränken möchte, verkennt oft - anders als du - dass sie ungeachtet ihres moralisch fragwürdigen Handelns klug sein können. Ich freue mich, dass du erkannt hast, dass der Löwe Substanz hat, freilich weder sympathische noch wünschenswerte.

Liebe Grüße
Ekki
Agneta (62) meinte dazu am 07.03.15:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 TassoTuwas (08.03.15)
Hallo Ekki,
es ist doch sehr tröstlich, dass Schleimerei und Vorteilsdenken nicht zum Erfolg führen.
Es ist halt eine (nachdenkenswerte) Fabel )))
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 08.03.15:
merci, Tasso. Jedenfalls führen sie nicht immer zum Erfolg.

Herzliche Grüße
Ekki

 monalisa (13.03.15)
Und wer beschattet den zweiten Fuchs, lieber Ekki?

Mir erscheint der Preis für die Macht zu hoch, ich möchte die Währung 'Misstrauen' gern in Vertrauen umwechseln und 'Angst vor Neidern' in das Gefühl 'Gemeinsam sind wir stark'.
Wie gut, dass ich keine Löwin bin!

Liebe Grüße,
mona

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.03.15:
Genau, Mona, das ewige Misstrauen wird mit dem Verlust an Lebensfreude viel zu hoch bezahlt.
Ich wollte diese Erkenntnis nahe legen, aber sie nicht als Lehre ausformulieren. Du hast sie verstanden. Grazie.

Liebe Grüße
Ekki

 Alias (17.03.15)
die löwin muss nix lesen, sie herrscht. oh, wieso löwin? irgendwie hatte ich den bundestag vor meinen augen...
wie komme ich nur da darauf?
gut geschrieben, ekkehart!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 17.03.15:
Merci, Alias, es stimmt, dass viele Herrschende nichts gelesen haben. Adenauer soll sich auch nur mit ein paar Krimis begnügt haben.

Liebe Grüße
Ekki
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram