Der Achte Fünfte

Geschichte zum Thema Nationalismus

von  Terminator

1. Wer ist Deutschland


"Sozialer Aufstieg", murmelte Peter, "das bedeutet, dass es mindestens zwei Klassen von Menschen gibt. Eine höhere Klasse muss es geben, sonst könnte man nicht aufsteigen". Des Lachens konnte ich mich aber erst nicht enthalten, als Jürgen meine: "Klassengesellschaft, auch bekannt als Faschismus". Wir fuhren zu einer Veranstaltung nach Hamburg, Zug, zweite Klasse. Ein Linksextremist lud alle progressiven Kräfte des Landes ein, um den achten Mai auf seine besondere Art zu begehen; es gierte mich neu, denn so vertraut mir der Sowjetkommunismus auch war, war mir der westliche Linksextremismus immer ein Stück befremdlich.

"Ich war heute in einem Chat", berichtete Rolf, "Cocaine war mein Nickname. Eine junge Chatterin sagte: Hitler ist eine fette Sau. Ich berichtigte sie: Adolf Hitler (20.4.1889 – 30.4.1945) war ein eher schlanker, mittelgroßer Mann. Sofort wurde die Verbindung unterbrochen; ich wurde des Chatrooms verwiesen, weil ich Hitler sein Menschsein zugestand. Hitler darf nicht ein Mensch genannt werden; in Deutschland ist es strafbar, zu sagen, Adolf Hitler gehörte zur Spezies homo sapiens sapiens". "Nur ein Beispiel unter unzählig vielen", meinte Jürgen, "Und was denkt das junge Mädchen? Wahrscheinlich, dass der Chatter Cocaine ein Nazi ist. So bildet man sich in Deutschland seine Meinung", schleuderte Peter entgegen. "Apropos Meinungsbildung", wachte der fünfte im Bunde auf, "die Bild-Zeitung, die ich wenn kaufen würde, dann um sie im Zug auf dem gegenüberliegenden Sitz zu platzieren, damit ich meine Füße auf den Sitz legen kann, ohne diesen zu verschmutzen". "Wo in Deutschland gibt es so schöne Pfützen, dass die Schuhe dreckig werden?" war mir neu. "Verschmutzen - das ist die Funktion der Bild-Zeitung", unterbrach mich Jürgen, "sie ist ein Triumph der Dummheit im Lande der Dichter und Denker". "Viereinhalb Millionen Vollidioten „lesen“ jeden Tag die Bild-Zeitung, die zweitpopulärste Tageszeitung in Deutschland erreicht keine Million von Lesern", war Peter aus der Statistik klug. "Nun, wenn die Deutschen so blöd sind, wie sie nun mal sind, dann wundert es keinen vernunftbegabten Menschen, dass diese Nation den Holocaust verbrochen hat, dass Millionen Deutsche immer noch vom Dritten Reich schwärmen und es sich zurück wünschen", wurde der Fünfte etwas konkreter, vielleicht um zu erinnern, wo wir hinfuhren. Peter nicht faul: "Blöde kann man leicht manipulieren, und der Psycho aus Braunau konnte die Massen nun mal begeistern". Jürgen klagte: "Der Krieg ist nun sechzig Jahre her, und er ist allein schuld. Niemand fühlt sich schuldig, alle jammern, der Österreicher hätte sie verführt, hätte Deutschland ins Verderben gestürzt, und hassen ihn mehr dafür, dass er den Krieg nicht gewonnen hat, als dafür, dass er ihn, wie sie alle auch, gewollt hat".

Wir stiegen in Uelzen um, ein für meine Begriffe dekadenter Bahnhof, dörflicher und kümmerlicher, als für gleiches Geld mit deutscher Technologie machbar gewesen wäre. "Vergiss die Integration", meinte Jürgen zu mir, "bleib wie du bist, werde bloß nicht wie die Deutschen". "Wie bin ich denn?" fragte ich in die Runde. "Wie sind denn die Russen so? Unkompliziert, großherzig, optimistisch, saufsam, etwas prahlerisch, aber sehr sympathisch", lobte mich Peter. "Ich mag es aber verkopft, diskret, nüchtern, schüchtern, bescheiden, misanthropisch", stellte ich unverblümt fest. Peter kochte: "Solche Migranten wie dich zu tolerieren, ist am Schwersten, ihr wollt die besseren Deutschen sein, als die verdammten Deutschen!" "Ich bin nicht toleranzbedürftig", bemerkte ich. "Assimiliert?" sah mich Jürgen angewidert an. "Deutschland hat dich verdorben. Du hättest in Russland bleiben sollen", meinte Rolf. "Sprecht ihr ihm das Recht ab, hier zu sein?" lachte der Fünfte gut. "Auf solche Messerstecher in den Rücken können die Linken in Deutschland verzichten!" rief Peter. "Aufgrund welcher Lebensleistung spielst du dich so groß auf?" interessierte mich sehr. Es brachte mir ein unappetitliches Schimpfwort ein. "Deutschland, in das ich gekommen bin, das sind nicht die dicken Säue, die in den Wohlstand, für den sie nichts können, hineingeboren wurden, ihr Leben lang nichts getan haben, außer ihr Land zu verteufeln, und meinen, immer und überall im Recht zu sein, nur weil sie links sind", blieb ich ruhig. "Schon klar, du bist in das Land Goethes und Schillers gekommen", war Rolf beleidigt. "Komisch, dass dieses Land, das außer Künstlern auch Wissenschaftler hervorbrachte, die besten der Welt, nie nach diesen benannt wird - oder hört man einen je sagen: das Land Einsteins und Plancks?" schraubte ich die Beleidigungsspirale weiter fort. "Nicht unsere Schuld, dass der Kommunismus bei euch schiefgelaufen ist und ihr deshalb so verbittert seid!" rief Peter mir zu, und da war schon die Endhaltestelle Hamburg-Altona.



2. Du bist der Holocaust


Ein Hinterhof irgendwo in Hamburg, wir kamen an. Ausländisches Bier wurde gereicht, auf die Nachfrage worauf ich die Antwort bekam: "Kann sein, dass deutsches Bier besser schmeckt, aber es ist deutsch". Auf einer improvisierten Bühne hielt der Gastgeber bereits seine Rede: "Immer wieder wollen deutsche Politiker einen Schlussstrich ziehen. Sie sind Faschisten. Sie gehören allesamt ins Gefängnis. Hitler ist mir gar sympathisch, wenn ich sehe und höre, wie die Deutschen zu ihrer Geschichte stehen. Er ist mir sympathischer, als eine dreiundachtzigjährige Frau, die seinen Holocaust, die ihren Holocaust still mitgetragen hat, für die NSDAP gestimmt hat, deren Mann an der Ostfront uns Leben kam. Hitler ist ein Mann, wie es aussieht. Er trägt die Verantwortung. Alle schütteln ihre Schuld ab, alle wollen nichts gewusst haben, alle sind Opfer gewesen. Das Bekenntnis zu Hitlers Alleinschuld am Elend der Deutschen im zwanzigsten Jahrhundert ist das höchste Heiligtum des deutschen Volkes". Ich war angesichts einer solch brennenden Hitlerverherrlichung nicht wirklich überrascht, kannte sie aber bisher nur von Rechtsextremisten.

"Ich bin stolz, kein Deutscher zu sein!" rief der Redner unter tosendem Beifall in die Menge. Nun war ich gespannt, zu welcher Nationalität er sich bekennen würde. "Die Deutschen sind eine Schicksalsgemeinschaft von scheinheiligen Pseudohumanisten, eine Irrenanstalt in politischer und moralischer Hinsicht", hörte ich weiter zu. Rolf setzte sich zu mir, sein Ärger war vergangen. Jürgen und Peter setzten sich demostrativ dorthin, wo die geographische Entfernung zu mir am Größten war. Der Redner donnerte indes weiter: "Alles, was je einer über die Deutschen gesagt hatte, stimmt, solange es nichts Gutes ist. Es hat seinen Grund. Es gibt Namen, die wie Links im Internet auf den Grund hinweisen, sehr präzise, sehr einleuchtend. Natürlich nicht für blöde Schwachköpfe, die die Bild-Zeitung lesen, aber auf deren intellektuelles Niveau würden uns Hitler und ich niemals begeben. Sepp Herberger. Konrad Adenauer. Die Stunde Null. Mit der Gründung der BRD wurde die Welt erschaffen, davor war nichts. Alles schnell verdrängen. Wir sind Fussball-Weltmeister, wir sind ein Wirtschaftswunderland, wir sind alle 1949 auf die Welt gekommen, mit dem Davor haben wir nichts zu tun". Rolf sah mich fragend an, ich nickte. Rolf fragte zur Sicherheit nach: "Hier hat er doch Recht, oder?" Ich schwieg, der Redner sprach: "Ach, es hat einen Krieg gegeben? Welchen Krieg? Davon steht in der Bild-Zeitung nichts. Holocaust? Was für ein dreckiger Jude hat sich dieses perverse Wort ausgedacht? Was bedeutet es überhaupt? Ich sags dir, du Hurensohn. Es bedeutet deine Mutter. Es bedeutet: dein Vater, dein Grossvater, deine Grossmutter, alle deine Onkel, alle deine Tanten, und wenn das schon alles ist, was es dazu zu sagen gibt, dann kann ich dir nur gratulieren. Gut weggekommen, noch mal Glück gehabt, du Nazischwein. Für die Meisten gilt aber: Du bist der Holocaust. Wir sind ja im Jahre 1949. Noch vor 4 Jahren hattest du jüdische Kinder zu Tode getreten, polnische Frauen erschossen; und nun willst du davon nichts wissen, nun ist der Hund aus Braunau allein an Allem schuld, nun sind die Russen wieder die Bösen, und vielleicht hast du der freien Welt sogar etwas Gutes getan, als du vor 8 Jahren mit deinen Kameraden - die auch am neunten Mai 45 plötzlich nichts mehr wussten, sich an nichts mehr erinnern konnten, ein zerstörtes Deutschland vorfanden und Opfer einer weltweiten Verschwörung gewesen sind, nicht wahr - russische Familien in Ställe eingepfercht und sie angezündet hast, beim lebendigen Leib verbrannt, die Welt von den Untermenschen gesäubert". Vielen Zuhörern blieb die Luft weg, der Redner setzte noch den Deckel drauf: "Jeder wusste was er tat, jeder wollte es, jeder tat es gern. Dummheit ist keine Entschuldigung, Feigheit ebenso wenig. Du bist Deutschland. Du bist der Holocaust".

Pause. Die Gemüter kochten, und es war schwer abzulesen, ob vor Zustimmung oder vor Ablehnung. "Adorno war der Meinung, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch", setzte sich der Fünfte zu uns. Rolf nickte bejahend. "Nach Auschwitz Fussball-Weltmeister zu werden? Nach Auschwitz mit Schwäbisch Hall Eigenheime bauen? Nach Auschwitz „Wetten Dass“ gucken?" fragte der Fünfte. "Grausam", meinte Rolf. "Gut, das Leben geht weiter, und die Kinder können für die Gräueltaten ihrer Eltern nun mal nichts", wurde der Fünfte rhetorisch, "aber nach Auschwitz die NPD wählen? Nach Auschwitz in die DVU eintreten? Nach Auschwitz Nazi sein?" "Unverzeihlich", urteilte Rolf, "alles andere, als die Betreffenden mit dem Tode zu bestrafen, ist eine bodenlose Frechheit... eine Unverschämtheit, die das deutsche Volk für immer moralisch disqualifiziert".
Wir drei gingen auf die Straße, die Pause war etwas länger geraten als geplant. "Kennst du den Redner?" fragte Rolf den Fünften. "Nein, noch nie gesehen". "Aber dass einer, den den Krieg nicht erlebt hat, so redet, ist doch bewundernswert", wollte Rolf bejaht wissen. "Ich kann mir nicht vorstellen, was jetzt noch kommt", tat ich meine politische Phantasielosigkeit kund.



3. Die Dichte des Denkens


Die Sitzplätze waren bei unserer Rückkehr neu verteilt, wir setzten und ganz rechts zu einem sehr hellhäutigen blonden Mädchen. "Kommst du aus Hamburg?" fragte Rolf. Sie nannte eine kleinere Ortschaft in Schleswig-Holstein, die von uns drei nur ich, der Migrant, heimatkundlich erschlossen hatte. Auf die Frage des Fünften, was sie auf der Veranstaltung zu suchen hatte, gab sie an, als Reporterin für eine rechtskonservative Schülerzeitung vor Ort zu sein.

Der Redner begann in alter Frische: "Es ist nun eine Straftat in Deutschland, den Holocaust zu leugnen, seine Zunge so zu bewegen, dass aus dem Mund rauskommt: „Den Holocaust hat es nicht gegeben“. Sehr klug, bravo. Wie wäre es damit, ein tätliches Leugnen des Holocaust unter Strafe zu stellen? Ein Alptraum für jeden Deutschen, denn der Deutsche tut jeden Tag, wenn er zur Arbeit geht, wenn er die Bild-Zeitung liest, wenn er Fussball guckt, nichts Anderes, als den Holocaust zu verdrängen, zu relativieren, zu leugnen, denn darauf kommt es im Endeffekt hinaus. Schwer vorstellbar, wenn in Deutschland auf einmal jeder Deutsche hinter Gitter kommt. Inkonsequenz ist daher zu einer Tugend geworden, Inkompetenz zum Lernziel, sobald es um einen intellektuellen Beruf geht". "Das Bildungssystem darf natürlich nicht zu kurz kommen", kommentierte ich, als er sprach: "Der Geschichtsunterricht in Deutschland - arme Anne Frank! Die Meisten denken wohl, dass sie eine Deutsche war, und von den Russen ermordet wurde". Der Fünfte brachte meine Alltagserfahrungen aus fernen sprachunkenntnisbedingten Hauptschulzeiten zum Ausdruck: "Es ist kein Geheimnis, dass Millionen erwachsener deutscher Menschen glauben, die Russen hätten sie überfallen". Mir bleib die Antwort im Halse stecken, als ich vom Rednerpult hörte: "Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Hitler und Adenauer?" Es gab eine kurze rhetorische Pause, in der ich genüsslich zusah, wie die schlake Hand des hellen blonden Mädchens durch das lange Haar  desselben Mädchens fuhr, damit das hübsche Gesicht eine freie Sicht bekam. "Nur diesen: der eine Verbrecher wird gehasst, der andere zum Gott gemacht. Die größte deutsche Persönlichkeit der gesamten Geschichte, des ganzen Jahrtausends der Existenz des Deutschtums, das, so hat die Mehrheit der Anrufer gestimmt, soll Adenauer sein. Warum nicht gleich Hitler? Da wäre man wenigstens bei der Wahrheit geblieben, wenn es schon um die Intelligenz so düster bestellt ist. Max Planck gehörte nicht einmal zu den 100 besten Deutschen - wen wundert das bei einem Volk von Bildzeitungslesern?" wurde der Redner nun medienkritisch. "Der Bildungsstand der Deutschen ist leicht rückläufig, aber immer noch weit über dem Weltdurchschnitt", provozierte ich Rolf. Der Redner wurde von einem Zwischenrufer "Nestbeschmutzer" genannt, worauf er diesem, allerdings nicht vom Pult und ohne Mikro, ausführlich und ausufernd antwortete. Wieder eine Pause. "Woran denkst du?" fragte mich Rolf, und erwartete einen klugen politischen Einwurf. "Wie kann man mit einer so zierlichen Hand so schnell schreiben?" meinte ich das Mädchen. Rolf wütete: "Du bist so pervers, du verfluchter Privatier! Sich einfach aus der Politik raushalten, nur an den eigenen Egoismus denken!" "An sich selbst denken, das ist Egoismus", korrigierte ihn der Fünfte, "an den Egoismus denken, das ist Psychoanalyse".

"Was wird eigentlich in den deutschen Familien so geredet", kam der Redner zurück, " - über den Krieg, über den Opa, über den Holocaust? Was erzählen deutsche Eltern ihren Kindern über die Ausländer? Die Türken sind doch alle kriminell, nicht wahr? Die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion - alles russische Mafia, die Polen ein Volk von Autodieben, und die Juden... Schnell die Pfote aufs Maul, bevor man sagt, was man sagen wollte; bevor man sagt, was man wirklich denkt". Rolf erblasste: "Das ist selbst mir zu links". "Wetten, es wird gleich rechts?" scherzte das helle blonde Mädchen, und der Gastgeber sprach: "Wenn nicht die reiche jüdische Lobby in den USA - hätten die Juden ein besseres Schicksal als die Türken? Nun, die Juden sind vorne gut bestückt, und nehmen Deutschland von hinten. Die Weltmacht heißt USA, und die Interessen der Juden fallen mit den Interessen des zweiten Römischen Reiches heute zufälligerweise zusammen". Rolf stutzte: "Die Türken? Was haben die Türken denn für ein nach Vergeltung schreiendes Schicksal?" "Vielleicht meinte er die Kurden", bemerkte der Fünfte humorlos. "Ein Glück, das dem geschundenen jüdischen Volk zu gönnen ist. Israel hat circa 50 Atombomben. Gut so. Zur Selbstverteidigung; wer weiß, ob morgen Ahmadinedschad oder übermorgen - wie hieß diese Fettsau von der CDU noch mal – es freut mich, dass Israel in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass jeder, der noch mal versucht, das jüdische Volk auszurotten, einen Atompilz vor die Haustür gestellt bekommt", täuschte der Redner einen philosemitischen Orgasmus vor.



4. Unpolitische Macht


"Ich sehe nach, was da los ist", flüsterte Rolf, "Peter hat Jürgen eben eine reingehauen". Auch vor dem Rednerpult gab es eine moderate Schlägerei, auch da ging es um dasselbe wie bei Peter und Jürgen, um den Vorwurf des Antisemitismus, wobei keiner anschließend wusste, wer wen warum einen Antisemiten genannt hatte oder wer was weshalb als einen Antisemitismusvorwurf interpretierte, und darum losboxte. "Komischer Russe: Eine Schlägerei, und du nimmst nicht Teil", scherzte der Fünfte.

Die Gemüter beruhigten sich und der Gastgeber setzte seine Rede fort: "Willy Brandts Kniefall von Warschau war die einzige gute Tat, die ein deutscher Politiker im zwanzigsten Jahrhundert vollbracht hatte. Wenn ich die Partei all der Opfer ergreife, so aus Humanität, aus der jedem gebildeten Menschen zugänglichen Überlegung, dass es das Normalste auf der Welt ist, dies zu tun, und ich erweise damit nicht den geschundenen Völkern, sondern meinem eigenen Selbstverständnis als Mensch eine Wohltat". "Am Ende die obligatorische Gefühlsduselei", zeigte sich der Fünfte enttäuscht. "Wo sind Peter und Jürgen?" fragte ich Rolf. "Nach Hause gefahren", schulterzuckte dieser. "Von den Deutschen erwarte ich bedingungslose Dankbarkeit dafür, was hier sage", sprach der Redner, als ein alter Mann links von uns ihn erkannte: "Das ist doch der Urenkel von diesem Helden von der Ostfront, ...Bahr oder ...Behr". Dieser sprach indes: "Wem es schwer fällt, mir zu danken, etwa weil ich ein Russe bin, und man ja bekanntlich den Russen nicht dankt, sondern sie hinter Stacheldraht verhungern lässt oder in Ställen verbrennt, der suche ein Holocaust-Mahnmal in seiner Stadt auf, falle auf die Knie und kapituliere bedingungslos. Falle mit dem Gesicht auf die Erde, in die dein Grossvater, dein Vater, oder vielleicht du selber Blut vergossen hast, weil du in deinem Hass auf die Juden, auf die Zigeuner, auf die Russen Hitler zugejubelt hast, ihn gelobt und mit ihm gefeiert hast. Verdamme ihn nicht dafür, dass eure von der katholischen und manch anderen Kirchen geheiligte Mission gescheitert ist, verfluche dich selbst dafür, dass jedes Wort, das Hitler in seinen Tiraden hinausrief, aus der Tiefe deines Herzens kam, dass du derjenige warst, der ihn an die Macht brachte und in seinen Krieg zog, in deinen Krieg, den du wolltest, du, Deutscher! Schuldspruch, Deutschland, Hitler ist ein falsches Alibi - das Gericht des Gewissens ist tief geschockt über den rigorosen Unwillen zur Einsicht, und im Namen der Menschheit ergeht das moralische Urteil: Du bist Deutschland. Du bist der Holocaust!"
Ich schämte mich fremd. Er war so deutsch, wie dieses blonde Mädchen schön, gab sich aber für einen Russen aus. "Ich verrate dir gleich, was hier läuft", revidierte der Fünfte seine Aussage vom Nichtkennen des Redners. Rolf ging in die Büsche, und der Fünfte verriet mir: "Er ist Schauspieler und Mitglied in einem rechtsextremistischen Geheimbund". "Kommt das in deinen Bericht?" fragte ich das Mädchen. Sie sah mich unpolitisch an, worauf ich den Fünften, der gebürtiger Hamburger war, nach einer bürgerlicheren Gegend als jener hier fragte. Vorbei an der graffitographischen Aufschrift "Unpolitisch macht hirntot" spazierte ich Hand in Hand mit dem hellen blonden Mädchen in ein gutbürgerliches Café. Sie war so direkt, mir die Eigenschaften solgleich zu benennen, aufgrund derer ich ihr sympathisch war: ich sei klug, diskret, nüchtern, schüchtern, bescheiden, misanthropisch. Da an diesem Abend mit gewaltsamen Ausschreitungen zu rechnen war, begleitete ich sie mit dem Zug bis nach Hause, fuhr dann auf die Reeperbahn, wo ich Rolf und den Fünften traf.

"Gemütlich hier", stellte der Fünfte fest. "Zu steril", verneinte Rolf, "hast du sie flachgelegt?" "Das hat noch niemand, vermute ich, und das Mädchen ist 19". "Eine von der patriarchalen Sexualmoral unterdrückte junge Frau", kommentierte Rolf. "Ein Mädchen", korrigierte ihn der Fünfte. "Was?" "Er sprach von einem Mädchen". Eine Schweigepause, die nicht allen bekam. Während Rolf mit den Tränen kämpfte, klopfte der Redner dem Fünften von Hinten auf die Schulter und lachte: "Wie war ich, du alter Kommunist?" "Ich muss neidlos anerkennen: du warst geil", zog der Fünfte den Hut. Rolf musste sich übergeben, ich ging mit ihm in eine Bartoilette. "Politik, scheiß Politik, scheiß auf die Politik!" wischte er sich das Maul ab. Wir tranken in der Bar einen Apfelsaft und fuhren heim, ohne den Fünften.


Anmerkung von Terminator:

2010

Goldener Snickers des Deutschen Sportsponsorenbundes 2011.

Großer Faschismuspreis 2012.

Großer Antifaschismuspreis 2013.

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Kommentare zu diesem Text


 Teichhüpfer (24.11.20)
Hitler ist kein Mensch gewesen, das schrecklichste Ungeheuer, das es gegeben hat.

 Terminator meinte dazu am 24.11.20:
Hitler war INFJ wie Daenerys Targaryen.

 Teichhüpfer antwortete darauf am 25.11.20:
Das Gegenteil sagt mir das.

 LotharAtzert (24.11.20)
Was du unbedenklich überall sagen darfst, weil dann alle Deutschen nur an die Stirn tippen: Adolf Hitler war Stier (0°) mit Waage-AC. Das heißt, er hatte die Sonne im 7. Haus und eine Stiersonne in 7, da geht es gleich ums ganze Herdenvolk und der Waageherrscher Venus steht natürlich auch dabei, da identifiziert er sein Subjekt mit dem ganzen Volk. Der Heinrich Himmler war Waage, der hatte es, die eigene Sonne in Hitlers. 1. Haus, natürlich gut bei ihm. Nur sein Tick mit dem Gral, das ging natürlich nicht ...

Soweit umsonst, der Rest würde viel viel Geld kosten, na klar, für jeden Ignoranten einen Euro.

 Augustus (24.11.20)
Sehr lebendig. Die Figuren sind authentisch - der Text hat literarische Qualität, als wärs ein Auszug aus einem größeren Roman. Die Figuren auch schön aufgebaut, da jede unterschiedlich ist weckt auch mehr Interesse beim Leser; und tatsächlich zieht der Text den Leser in die Gruppe, in die Veranstaltung mit ein und entwickelt einen noch größeren Sog, je länger man liest. Natürlich könnten die Rede vor dem Publikum länger sein, um einmal die Perspektiven zu wechseln, von der Gruppe ab, die einem miteinander reden und einmal dem Redner zuhören, um das gehörte kommentieren um dann wieder zuzuhören etc.
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