Pedro

Erzählung zum Thema Einsamkeit

von  Quoth

„Wir haben eine syrische Familie bei uns im Souterrain aufgenommen. Sie haben zwei Kinder und sind alle sehr lieb.“ Herta war offensichtlich nicht wenig stolz auf ihre Liberalität und Willkommenskultur.

„So sind sie am Anfang immer,“ sagte Else. „Sie kennen hier nichts und niemand und sind völlig auf euch angewiesen. Aber lasst sie erstmal ein paar Monate hier sein, dann werdet ihr euer blaues Wunder erleben. Nein, ich beschränke mich darauf, für die Gemeinde gelegentlich zu dolmetschen. Ich kann ganz gut Arabisch, seit ich an der deutschen Schule in Amman war.“

„Bei mir wäre auch Platz für eine Flüchtlingsfamilie. Aber Pedro rät mir eindringlich ab, mich auf sowas einzulassen.“ Ute nippte am fair gehandelten Kaffee, während die anderen Mädels einander verstohlene Blicke zuwarfen. „Er sagt, es würde mich überfordern. Man wisse doch nie, sagt Pedro, was solche Leute einem an schrecklichen Erfahrungen, vielleicht an Traumata ins Haus schleppten, sie würden davon erzählen und uns damit belasten. Stellt euch z.B. vor, es sind Leute, die Zeugen der Ermordung ihrer Eltern oder ihrer Kinder geworden sind …“ Utes Gesicht war bei der bloßen Vorstellung von Fassungslosigkeit gezeichnet.

Ellinor wollte das so nicht stehen lassen. „Aber dafür nehmen wir doch Flüchtlinge auf, auch um das viele Leidvolle, dass sie erlebt haben, mit ihnen zu teilen. Ist Pedro Psychologe, dass er dir solche Ratschläge gibt?“

„Ach, habe ich euch das noch nicht gesagt? Ja, er ist seit kurzem Arzt an der jugendpsychiatrischen Klinik Avanzada in Barcelona. Wir telefonieren fast täglich miteinander, und ich bin überglücklich, ihn immer um Rat fragen zu können.“ Ute strahlte. Else aber blickte sehr verwundert in die Runde und wollte gerade eine ihrer gefürchteten Bemerkungen machen – da spürte sie plötzlich den Fuß Ellinors auf dem ihren, und Ellinor gab ihr mit einem kaum sichtbaren Hin und Her ihres Kopfes zu verstehen, dass sie den Mund halten sollte.

„Sag uns doch, warum du heute ohne Hedwig gekommen bist!“ Ellinor wollte Ute offenbar ablenken, aber das gelang ihr nicht.

„Edvigue musste bei Amandus bleiben, der seine Schmerzen nur noch unter Morphium erträgt. Pedro rät mir eindringlich ab, jemals Morphium oder Opioide zu nehmen, weil der Suchtfaktor zu hoch ist, aber Edvigue wird frech, wenn ich ihr so was sage und hat mich angeschrien: Mein Pedro könne ihr mal im Mondschein begegnen! Ich glaube, wir müssen uns dringend um sie kümmern, denn die Qualen, die ihr Mann durchlebt, machen sie verrückt vor Mitleid, Pedro sagt, Menschen können auch vor Mitleid sterben … Es tut mir leid, Mädels, ich muss raus, der Elfuhrzug kommt gleich, und Pedro hat gesagt, er komme heute, wenn alles klappt, mit diesem Zug an.“ Ute stand auf, verabschiedete sich von Herta, Else und Ellinor mit Küsschen und ging hinaus. Tiefes Schweigen herrschte am Tisch, als sie gegangen war.

„Barcelona! Avanzada!“, sagte Else kopfschüttelnd. „Warum versetzt sie ihn nach Barcelona?“

„Der Mann, von dem sie schwanger war, war doch Spanier,“ sagte Ellinor.

„Sollte nicht jemand mit gehen – um sie aufzufangen, wenn er nicht kommt?“ Herta machte sich Sorgen. Aber Else runzelte die Stirn.

„Wenn er nicht kommt, und er wird nicht kommen, weil es ihn gar nicht gibt, dann telefoniert sie mit ihm, und er kann ihr sicherlich alles zufriedenstellend erklären. Ich brauche jetzt einen Korn!“



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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (17.12.21, 17:22)
Ein eingebildeter Ratgeber! Zum Glück hört sie wenigstens nicht die Stimme Gottes ...

 Quoth meinte dazu am 18.12.21 um 07:57:
In "Die Hexe von Windsor" steht dieser Absatz: „Bei mir ist es so ähnlich – nur noch schlimmer,“ sagte Ute. „Ich habe ein Kind, das ich erwartete, abgetrieben. Ich war noch sehr jung, wäre bestimmt keine gute Mutter gewesen.“ Sie schniefte kurz in ein Tempo. „Auch wenn es bei mir als allein erziehender blutjunger Mutter sicherlich nicht das beste Zuhause gehabt hätte – aber Pedro wäre jetzt erwachsen und würde sich vielleicht mal um mich kümmern.“
Pedro ist der Name, den sie ihrem abgetriebenen Sohn gegeben hat.
Vielen Dank für Empfehlung mit Kommentar! Quoth

 Graeculus antwortete darauf am 18.12.21 um 15:10:
An diesen Pedro hatte ich nicht mehr gedacht.
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