Lass mich deine Alice sein

Erzählung zum Thema Wehrdienst

von  Quoth

Drei von den sieben Kameraden, mit denen ich dasselbe Zimmer teilte, sind mir noch gut in Erinnerung. Fritz Müller konnte wunderbar Koffer packen – Jacke und Hose, alles blieb faltenfrei. Von ihm lernte ich, die eine Schulter der Jacke in die andere zu stecken. Er hatte Schneider gelernt bei seinem Vater, war ebenso dünn wie zäh. Birger Rasmussen war ein Großstädter, mit seinen 23 Jahren schon mit allen Wassern gewaschen, Speditionskaufmann seines Zeichens. Er hatte ein üppiges Centerfold in die Spindtür gepinnt und rühmte sich, am Wochenende große Mühe zu haben, seine vier Freundinnen einzeln zu treffen, ohne dass sie einander begegneten. Und dann war da noch Mähdrescher, Landmaschinenvertreter, „Mach mal halblang!“ sagte er immer, wenn Birger mal wieder angab. Er hieß eigentlich Konni Barunke und schleppte beim Schießen die bleischwere Spritze – wie er das MG getauft hatte.

Birger sagte mir, wie leid es ihm täte, dass ich bei der Postausgabe nie was bekäme. Ob ich denn keine Freundin hätte, er könne mir sonst eine abgeben. Ich zeigte ihm die Postkarte von Alice aus Salem, in der sie sich beklagte, dass sie große Mühe mit Stochastik und Geschichte habe. „Ich habe ihr ein paar Tipps geschrieben und ihr das System der marxschen Klassengesellschaft und seine Dialektik erklärt. Keine Antwort!“ Aber schon drei Tage später kam eine Postkarte, auf der sie sich entschuldigte und mir mitteilte, dass sie mit Hilfe meiner Informationen das Abitur bestanden hätte. Von da an schrieb sie mir fast täglich, manchmal auch im Umschlag, und das war gut so, denn ein Satz wie „meine Nippel sehnen sich nach deinen Lippen“ hätte sich auf einer Postkarte nicht so gut gemacht.

Diesen Brief hatte ich auch in der Brusttasche an dem Tag, an dem ich den Gehorsam verweigerte und der Oberfeld uns den Pfingsturlaub strich. „Wen hat er wohl mit den Quertreibern gemeint?“ tönte Flieger Rempe und ging mit seiner Aufforderung, dem einen Riegel vorzuschieben von Zimmer zu Zimmer – nur unseres mied er. „Lass uns die Betten tauschen,“ schlug Mähdrescher vor, „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!“ Ich begriff nicht ganz, warum, aber Mähdrescher duldete keinen Widerspruch, und so zog ich ins obere Bett um. Nachts gegen drei gab es Lärm, Gekeuche, dumpfes Aufprallen von Schlägen, und der Tisch fiel um. „Was ist los?“, ich schreckte empor. „Nichts ist los,“ flüsterte Birger mir ins Ohr, kroch zu mir unter die Decke und flüsterte mir ins Ohr: „Lass mich deine Alice sein!“

Fritz Müller und Konni Barunke hatten blaue Flecken im Gesicht und Blutflecken im Bett. Es wurde nachgeforscht, aber der UvD hatte nichts bemerkt.

Eine Woche später bekam Birger, was in dieser Nacht mir zugedacht war: Ihm wurde der Kopf ins Klo und ein Besenstiel in den Arsch gesteckt. Und durch Vilma erfuhr ich, dass Alice in Salem erkrankt und vom Abitur zurückgestellt worden sei. Später habe ich ihr die Karten und Briefe gezeigt, die angeblich von ihr gekommen waren. „Hast du denn nie auf den Poststempel geguckt?“, fragte sie. „Aber meine Schrift hat er perfekt nachgemacht! Er muss dich wirklich geliebt haben!“




Anmerkung von Quoth:

UvD: Unteroffzier vom Dienst, hat Nachtwache

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