Wir

Innerer Monolog zum Thema Selbsterkenntnis

von  IngeWrobel

 

Wir tragen unsre ungelebten Träume in das Morgen,

wir brechen mit der Stunde Ton, der ungebührlich klang,

wir zweifeln an dem Heute weil das Gestern nicht gelang

und möchten uns vom Übermorgen die Minuten borgen.

 

Wir hören lautes Jammern über längst vergossne Tränen,

entfernen alte Asche, die der Wind bereits verweht.

Wir klammern uns an Leben das schon lang nicht mehr besteht

und lachen über Greise, die sich in der Kindheit wähnen.

 

Wir lassen uns verwirren von bestechenden Diktionen,

wir schielen nach dem Status, der uns selbst noch nicht gebührt,

wir sind – von fremdem Glanz geblendet – allzu schnell verführt

und flüchten uns gedanklich  in abstruseste Fiktionen.

 

Wir sind so losgelöst, dass wir die Wahrheit nicht erkennen,

wir gieren nach den Zielen, die wir nimmermehr erreichen,

wir gehen zur Befriedigung wenns sein muss über Leichen

und staunen, dass wir dennoch nie den Tod beim Namen nennen.

 

Wir können unser Leben lang uns noch so sehr verbiegen,

wir machen uns zum Anwalt unsres nie gelebten Lebens

und wissen insgeheim, dass das Bemühen doch vergebens

solange wir nicht selbst den eignen Schweinehund besiegen.

 

 

 

©  2008-02-14 



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Kommentare zu diesem Text


 Rosalinde (28.09.23, 18:11)
Liebe Inge,

merkst du den Stilbruch (Schweinehund)?

Ja, natürlich, es gibt diese Illusionen en masse. Aber so verallgemeinern würde ich es in diesem Fall nicht, weil es ja doch Menschen gibt, die ihre Ziele auch erreichen, und wenn sie über Leichen gehen, wie du sehr richtig schreibst. Es ist ja so: Man beschäftigt sich am meisten mit dem, was man nicht hat. Das hast du sehr gut beschrieben.

Lieben Gruß, Rosalinde

 IngeWrobel meinte dazu am 28.09.23 um 18:51:
Liebe Rosalinde, 

für mich ist der "innere Schweinehund" eine verzeihbare Schwäche, die ich durchaus für mich selbst in Anspruch nehme. 
Natürlich halte ich es auch mit Goethes Engeln, die dem Faust in Teil II Absolution gewähren: "Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen." 
Dieses Bemühen aber ist ja sehr individuell motiviert und kann insofern unterschiedlich betrachtet werden. Ich kenne tatsächlich keinen Menschen, der all seine "Ziele" erreicht hat und damit zufrieden ist. Ich sehe uns eher als "Dauer-Strebende" – mich jedenfalls.  
Und dieser innere Schweinehund, man könnte ihn auch "Konsequenz" nennen, verhindert bei mir so manche gute und richtige Tat. Schämen tue ich mich jedoch nicht deswegen, weil in der Regel niemand anders betroffen ist. 
Also träume ich weiter ... 

Danke für das Beschäftigen mit dem Text und die Empfehlung dafür! 

Liebe Grüße zu Dir 
von der Inge

 Quoth antwortete darauf am 29.09.23 um 12:43:
Ich sehe uns eher als "Dauer-Strebende" – mich jedenfalls.  
Wenn das "Wir" durch "Ich" ersetzt würde, könnte ich die vielen resignativen Betrachtungen besser akzeptieren, zumal es ein innerer Monolog ist  Gibt es einen inneren Monolog von vielen zugleich? Vielleicht im Chor der griechischen Tragödie. Ist es ein unfreiwilliger Pluralis maiestatis, dignitatis oder modestiae? Schwer zu erkennen und zu entscheiden! Gruß Quoth

Antwort geändert am 29.09.2023 um 12:45 Uhr

 IngeWrobel schrieb daraufhin am 29.09.23 um 14:56:
Hallo Quoth, 
 
nein, dieser Plural hat weder einen Machtanspruch (dritte Person) noch einen religiösen oder "bescheidenen" Hintergrund. 

Das "Wir" benutzt eine Frau, die sich einerseits zur Sprecherin aller machen, andererseits aber nicht anmaßend aus der Masse herausheben möchte. 
Das ist ein schmaler Grat beim Schreiben. 
Übrigens auch beim Reden in einer Diskussion. Da pfeife ich mich oft zurück wenn ich beginne, "man" statt "ich" zu sagen. 

Danke jedenfalls für die Empfehlung des Textes! 
Liebe Grüße 
Inge 

Anmerkung/Änderung: Ich war gedanklich im Nachfolgetext und hab zuerst nicht konzentriert auf diesen Text geantwortet. Sorry!

Antwort geändert am 29.09.2023 um 15:22 Uhr

 Quoth äußerte darauf am 29.09.23 um 17:08:
Dann müsstest Du den Text "Wir Frauen" nennen. Und in der letzten Strophe müsste es heißen: "Wir machen uns zu Anwältinnen unsres nie gelebten Lebens." Ich fühlte mich irrtümlicherweise mitgemeint mit dem "Wir". Tut mir leid.

 IngeWrobel ergänzte dazu am 29.09.23 um 17:59:
Nein, mir tut es leid, dass ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe: Selbstverständlich sind in diesem Text alle Menschen, gleich welchen Geschlechts, gemeint. 
Das "Wir" bezieht jeden ein, der sich angesprochen fühlt.

Gleichzeitig möchte ich aber keine Wertung abgeben sondern sagen, dass manche der angesprochenen Gedanken und Verhaltensweisen auch auf mich zutreffen – aber natürlich nicht alle. 
Wer mag, kann überlegen, ob er sich hier erkannt fühlt ... und ob er das ändern möchte oder ganz okay findet. 


Wir machen uns zu Anwältinnen 
Das würde ich nie schreiben, denn das wäre eine doppelte Anmaßung. Eine solche Formulierung zeigt m.E., wohin das überzogene Gender-Gedöns führen kann.  :dizzy: 


Dir liebe Grüße von Mensch zu Mensch! 
Inge

 IngeWrobel meinte dazu am 16.01.24 um 01:07:
Lieber Quoth, 
manche Dinge brauchen bei mir etwas länger... 
Aber wenn ich eine qualifizierte Kritik erhalte, nehme ich diese auch ernst. So in diesem Fall. 
Ich werde meinen obigen Text umschreiben und ihm den Anspruch auf Allgemeingültigkeit nehmen. Mir ist klar geworden, dass ich mich als Leserin auch nicht gerne vereinnahmen und in Schubladen stecken ließe. 
Du hast mir die Augen geöffnet – und dafür danke ich Dir! 
Liebe Grüße 
Inge
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