Der Taxischein

Kurzgeschichte zum Thema Prostitution

von  Koreapeitsche

 

Es ist Mitte der 1990er. Der ehemalige Fahrlehrer war über 40 und hatte schon eine gescheiterte Ehe hinter sich. Sein Taxiunternehmen in der zweitgrößten deutschen Stadt lief nicht besonders gut. Eines Tages lernte er eine Frau der Selbsthilfegruppe „Ygdrasil“ kennen, eine Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Prostituierten beim Ausstieg aus dem Gewerbe zu helfen. Er trank mit der Frau ein paar Bier, diskutierte mit ihr stundenlang über Prostitution. Ein paar Tage später hatte er eine Idee: Er wollte einen Taxischein für ehemalige Prostituierte anbieten, verbunden mit einem Reintegrationsprogramm, durch das die Prostituierten sich aus dem Milieu lösen könnten. Es kam später tatsächlich zur Umsetzung dieses Projektes. Das Vorhaben würde begleitet von einer kleinen Werbeaktion im Stadtmagazin. Unter den Rubriken „Kontakte“ und „Stellenangebote“ erschien folgende Annonce:

 

„Taxischein für Prostituierte, die sich aus dem Milieu lösen und eine neue Existenz aufbauen wollen. Taxischule mit erfahrenem Ausbilder boxt Sie durch die Ausbildung und bietet danach Festanstellung.“

 

In den Tagen, nach dem Schalten dieser Anzeige lief das Telefon heiß. Mit der Annonce hatte er tatsächlich den Nerv getroffen. Im folgenden Vierteljahr meldeten sich knapp 50 Prostituierte. Parallel zur Ausbildung fand eine Beratung durch „Ygdrasil“ statt. Die meisten der angemeldeten Frauen schafften es schließlich, sich aus dem Milieu zu lösen. Darunter befanden sich besonders viele ältere Prostituierte, die in ihrem verzweifelten Beruf keine Zukunft mehr sahen. Gerade für diese Frauen war das Projekt hervorragend, denn in einer Stadt mit Tausenden von Taxis wurden immer Leute mit Taxischein gesucht, und die Frauenquote in der Branche konnte auf diese Art und Weise erhöht werden. Mit der Zeit kamen auch immer mehr ausländische Prostituierte in seine Taxischule. Deren Situation galt als besonders verheerend, da diese aufgrund der Sprachdefizite noch sehr viel stärker ausgebeutet werden. 

Das mit dem Taxischein sprach sich letztendlich bei einer Gruppe junger Ukrainerinnen rum, die alle für den selben Zuhälter anschaffen mussten. Die Frauen sprachen mittlerweile ausreichend Deutsch, um den Taxischein zu erlangen. Es waren neun Frauen ein und desselben Zuhälters, die innerhalb kürzester Zeit nicht mehr in ihrem Etablissement auftauchten. Der Zuhälter geriet in Rage, da ihm pro Tag mehrere Tausend durch die Finger gingen. Die Frauen nahmen nebenbei an dem Resozialisierungsprogramm teil und bezogen neue Wohnungen. Die neun Ukrainerinnen fuhren fortan Taxi, fanden zu einem ganz neuen Lebensstil fernab von jeglicher Kriminalität. Schlussendlich wollten sich weitere ukrainische Prostituierte aus den Fängen des Zuhälters lösen, als sie vom Erfolg der ehemaligen Kolleginnen erfuhren. Doch der Zuhälter kam dahinter. Er erwischte eine der ehemaligen Vergnügungsdamen, schlug sie zusammen bis sie schließlich die ganze Geschichte mit dem Taxischein und dem Resozialisierungsprogramm auspackte. Für den Zuhälter waren die Frauen, die zum größten Teil aus Kiew stammten, eine „wichtige Investition“. Er erstand sie von regelrechten Menschenhändlern und hatte für sie viel Geld bezahlt. Um diesen Aderlass schlussendlich zu unterbrechen, schritt er zu einem harten Mittel. Er fuhr zum Taxiunternehmer, traf ihn in seinem Büro an, zog eine Waffe und schoss ihm drei Kugeln in den Leib. Der  Taxiunternehmer war auf der Stelle tot. Die Sache wurde nur kurz in den Medien aufgegriffen und der Zuhälter nie dingfest gemacht. Das Projekt, das so erfolgversprechend begann, scheiterte kläglich. Zwar blieben die meisten der bereits ausgebildeten Ex-Prostituierten in ihrem neuen Job als Taxifahrerinnen, doch niemand traute sich, weitere Prostituierte aus dem Milieu herauszulösen. Das Projekt war durch diesen Mord schlagartig zu Ende. Auch die „Ygdrasil“-Leute waren vollkommen eingeschüchtert. Und gerade deren Betreuungsarbeit war so ungemein wichtig für die ausstiegswilligen Prostituierten. Die Sache wurde nicht weiter thematisiert, auch Politiker hielten sich heraus, da sie mit dem Rotlichtmilieu nichts zu tun haben wollten. Auf dem Kiez herrscht wieder das alte raue Klima. Die Prostituierten sind um eine Hoffnung ärmer.  

 



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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (07.11.23, 12:33)
"verzweifelten Beruf"?

Vielleicht verzweifeln die P. an ihren Beruf, oder sind verzweifelt, aber ein Beruf an sich kann nicht verzweifeln, er hat ja kein Bewusstsein.
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