Ned

Kurzgeschichte zum Thema Fantasie

von  Milta_Svartvis

Ned war so unauffällig, dass niemand sein plötzliches Verschwinden bemerkt hatte. Der pummelige Büroangestellte mit Glatze und  randloser Brille kam stets pünktlich, arbeitete fleißig, überzog nie die Pausen und verschwand pünktlich. Wenn er mal sprach, dann leise und knapp. Man kann sagen, der Mann war wie  eine Zimmerpflanze gewesen - einfach da. Tatsächlich war Ned dermaßen unauffällig, dass es auffiel. Manchmal dachten seine Kollegen, er würde Überstunden machen, denn man sah ihn nie zu Feierabend das Gebäude verlassen. Kein Ned, der zur Bushaltestelle ging oder auf dem Parkplatz in ein Auto stieg. Als Stefan aus der Buchhaltung ihn einmal fragte, wohin er nach Feierabend immer hingehe, sagte Ned: "Nach Hause." 

Wo er denn wohne, wollte Stefan wissen. 

"In der Stadtmitte." 

Dann habe er es ja nicht weit zur Arbeit, stellte Stefan fest. 

"Richtig.", erwiderte Ned. 


So kurz und knackig verliefen alle Gespräche mit dem schweigsamen Eigenbrötler. Er beteiligte sich nicht großartig Gesprächen im Pausenraum, es sei denn, man sprach ihn direkt auf ein Thema an. Und auch dann äußerte er sich eher kurz und knapp dazu, wobei er den Eindruck erweckte, weit über den Dingen zu stehen, was ihm einige schiefe einbrachte. In einem kläglichen Versuch, ihn mehr einzubeziehen, fragte Stefan ihn einmal, was er eigentlich von KI halte. 

"Primitiv.", sagte Ned gleichmütig. 

Aber das sei doch die Zukunft der Menschheit, entgegnete Stefan verblüfft. 

"Ach was. Schnee von Gestern.", erwiderte Ned ohne von seiner Zeitung aufzuschauen. 

Stefan ließ nicht locker. Er fragte Ned, was er davon halte, dass die Menschheit demnächst vielleicht von Robotern ausgelöscht wird. Neds Antwort auf diese scherzhaft gemeinte Frage war so ernst wie verblüffend: "Keine Sorge. Ihr werdet den Maschinen zuvor kommen." 


Danach hat Stefan nie mehr versucht, den wortkargen Sonderling in ein längeres Gespräch zu verwickeln. Wenn er in den Pausen nicht gerade ausgiebig die Tageszeitung studierte, tippte er ständig etwas in ein Gerät, das die anderen für ein Handy hielten. Als Heike, die Rezeptionistin, einmal fragte, was er da denn ständig am tippen sei, erwiderte Ned: "Nichts von Belang für dich." Als Heike im Scherz fragte, ob er protokolliere, über wen in der Pause alles gelästert werde, sah er sie an. "Wie gesagt: nichts von Belang.", sagte er in seiner sanften, leisen Stimme. 

Heike blinzelte mit den Augen. Dann warf sie Ned einen fragenden Blick zu.

"Neddie, hast du gerade was gesagt?"        

"Nein.", erwiderte Ned.                                        

"Ach so."                                                             

Heike drehte sich um und ging.


Eine Woche vor Neds Verschwinden schien eine Veränderung in ihm vorzugehen. So, als hätte er etwas wichtiges zu Ende gebracht oder mit etwas innerlich abgeschlossen. Es äußerte sich unter anderem darin, dass er aufhörte, Dinge in sein  Gerät zu tippen, das die Leute fälschlicherweise für ein Handy hielten. Außerdem brach er eines Nachmittags kurz mit seiner üblichen Verschwiegenheit. 

Es war kurz vor Feierabend. Ned kam gerade aus seinem Büro und war auf dem Weg zur Toilette, als er am Chef vorbeikam, der sich gerade mit dem Praktikanten unterhielt. Das Thema war "Glaube versus Wissenschaft." Um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken, fragte der Chef Ned nach dessen Meinung dazu. Ned sah ihn an und zuckte mit den Schultern. "Ist für mich das gleiche."
"Quatsch!", rief der Chef, der Atheist und privat sehr an Naturwissenschaften interessiert war. "Das kann man doch nicht gleichsetzen."
"Wieso nicht?", entgegnete Ned. "Es sind beides Weltbilder, die nach dem Grund der Dinge fragen. Beide beten Bücher an, beide nehmen für sich in Anspruch, die Wahrheit zu kennen und beide liegen grundlegend falsch. Der einzige Unterschied ist, dass die Wissenschaft freiwillig zugibt, wenn sie sich irrt, da es zu ihrem Selbstverständnis gehört, überholte Ansichten angesichts neuer Erkenntnisse zu hinterfragen. Aber dafür weigert sich die Wissenschaft, zuzugeben, nur eine weitere Glaubensgemeinschaft zu sein. Ich vermute, aus Überheblichkeit und falschem Stolz. Wenn ich nämlich immer davon ausgehen muss, dass meine derzeitigen Erkenntnisse potenziell inkorrekt und überholbar sind kann ich nicht ernsthaft von "Wissenschaft" sprechen, sondern bestenfalls vom temporären Glauben an bald schon obsolete Erkenntnisse. Und wenn diese in der Zukunft obsolet sind, dann besitzen sie schon jetzt keine Gültigkeit mehr. Auf so einer Grundlage angebliches Wissen oder Erkenntnisse aufzubauen ist genau wacklig wie die Logik von Leuten, die denken, dass sie dem Wort Gottes gehorchen, doch in Wahrheit gehorchen sie einem von  fehlbaren Menschen verfassten Buch. Ihrer eigenen Logik zufolge müssten sie sich also selbst als Häretiker verurteilen. Aber dazu fehlt ihnen der Wille zur wirklichen Erkenntnis. Sie glauben nicht an Gott, sie glauben an ein altes Buch. Wissenschaftler hingegen haben kein Wissen, sie glauben an etwas, dass nie wirklich in seiner ganzen Tiefe nachweisbar sein wird und nennen das dann 'Erkenntnis'. Aber erkennen kann man nur etwas das auch wirklich nachweisbar da ist.

Entweder man weiss oder man glaubt. Die Wahrheit, nach der Forschung und Religion angeblich suchen, wäre per definition absolut und würde weder "neue Erkenntnisse der Forschung" erfordern noch irgendeinen Propheten. Etwas ist oder ist eben nicht. So einfach ist das. Früher galt als erwiesen, dass die Welt eine Scheibe ist. Heute wird behauptet, sie sei eine Kugel. Aber das ist denn bitte eine Kugel? Nur eine geometrische Einheit zur kognitiven Erfassung der Umwelt. Von Menschen für Menschen und jenseits der Bedürfnisse eurer Spezies irrelevant. Etwas für wahr zu halten, weil alle anderen das sagen ist genauso fragwürdig wie jede andere Ideologie. Die Masse der Gläubigen macht sich nicht die Mühe, das selbst auf den Prüfstand zu stellen. Dazu sind die Menschen zu bequem. Das überlasst ihr den Forschern, den Priestern, den Demagogen, allen, die behaupten, "die Wahrheit" zu kennen. Da es aber keine Wahrheit gibt, sondern nur eine Illusion, die den Menschen antreibt, sich weiter zu entwickeln, gibt es keinen ersichtlichen Grund, die Wissenschaft als etwas anderes als eine weitere Mythologie unter vielen zu sehen. Kurz gesagt, es gibt es keine echte Wissenschaft, da es über nichts im Universum wirklich gesicherte Erkenntnisse gibt. Und jetzt entschuldigt mich bitte. Ich muss pinkeln." Und damit ging Ned zur Toilette. Der Chef sah ihm verwirrt und mit offenem Mund hinterher.  

"Was auch immer der nimmt, ich will das auch." ,murmelte der Praktikant.

 
Stefan war der letzte, der Ned gesehen hatte, bevor er für immer aus der Welt verschwand. Er musste eines Tages länger arbeiten und als er endlich fertig war, ging er pfeifend durch die leeren Gänge. Die Putzfrauen waren bereits fort und er glaubte, ganz allein im Gebäude zu sein. Gedankenverloren suchte er in den Hosentaschen nach den Schlüsseln fürs Gebäude, als er ein Geräusch hörte. Jemand schien seinerseits mit einem Schlüsselbund zu klappern. Es kam von unten aus dem alten Aktenlager, also ging Stefan die Treppe hinunter um nachzusehen. Schließlich war Freitag, und er wollte vermeiden, versehentlich jemanden übers Wochenende einzusperren. Vielleicht ein Kollege, der die Zeit nicht im Blick hat, dachte er. Doch was er dann fand, war etwas ganz anderes. Im alten Aktenlager stand Ned. Stefan rief ihm zu, doch er reagierte nicht. Stattdessen fummelte er vor einer Tür an seinem Schlüsselbund. Moment mal, dachte Stefan. Seit wann ist da eine Tür? Und dann auch noch an der Stelle? Hinter der Wand gab es nur Beton, hinter dem sich der Keller des Nebengebäudes befand, aber nichts, was eine Tür erklären würde.

Und dann machte Ned sie auf. 

Stefan blieb stehen und starrte mit offenem Mund und schreckgeweiteten Augen auf das, was dahinter lag. Er erhaschte einen Blick auf eine weiße  vertrocknet aussehende Ebene. Der Boden hatte grobe Risse, so groß, dass sie selbst aus weiter Ferne zu sehen waren. Über all dem spannte sich ein leuchtend violetter Himmel. Hie und da liefen Konzessionen von Gestalten in roten Gewändern entlang, die Stefan an eine Burka denken ließen. Eines dieser Dinger zog eine große, groteske Kreatur hinter sich her, mit einem breiten, kamelartigen Kopf und einem kurzen, dicken Hals, der auf einem knochigen, mageren Rumpf saß, und die sich auf sechs haarigen, spinnenähnlichen Beinen fortbewegte. 

Stefan war völlig überfordert. Er sah Ned durch die Tür gehen und rief noch einmal seinen Namen. Ned drehte sich um, sah ihn kurz an und schloss dann die Tür zu. Ungläubig starrte Stefan die Tür an während er hörte, wie jemand dahinter mehrfach den Schlüssel im Schloss drehte. Langsam trat er näher und streckte die Hand nach der Klinke aus. Irgendwie brauchte er das. Er war immer der Meinung, eine Tür ohne Knauf oder Klinke ist keine richtige Tür. Für Stefan war in diesem absurden, surrealen Moment die Klinke etwas, das diese abnormale Tür als real ausweisen würde.

Jemand drückte die Klinke von der anderen Seite nach unten.

Stefan schrie. Er lief die Treppe hinauf und aus dem Gebäude. Auf der Autobahn fiel ihm ein, dass er vergessen hatte das Gebäude abzuschließen, aber das war ihm egal. Er würde sich eine Ausrede einfallen und krank schreiben lassen.

Am nächsten Morgen kam Stefan pünktlich zur Arbeit. Als der Chef ihn ins Büro zitierte und ihn zur Rede stellte, warum er das Gebäude nicht abgeschlossen hatte, zeigte sich Stefan bestürzt. Er vergaß normalerweise nie, abzuschließen, wenn er mal länger arbeiten musste. Zum Glück war nichts gestohlen worden. Sollte dies aber noch mal vorkommen, wäre Stefan seinen Job los. Den ganzen Tag lang wunderte dieser sich, wie er das vergessen konnte. Er hatte die Angst und das Grauen vergessen. Genau wie die Tür im alten Aktenlager, die es nie gegeben hatte. Und auch Ned wurde bereits vergessen. Ned, dessen Name unbemerkt aus allen Personalien, Bankkonten, Gehaltslisten und Mietverträgen verschwunden war. Ned, dessen Zuhause irgendwo in der Stadtmitte lag, der seine jahrelange Feldforschung endlich beendet hatte und sich nun anderen Dingen widmen konnte. Doch im Büro wurde er nicht mehr gebraucht. Daher war auch es auch nicht mehr nötig, dass sich Stefan, Heike und all die anderen Menschen an ihn erinnerten. Die Erinnerung an Ned war so obsolet geworden wie ihr Verständnis von Wissenschaft.



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