Hannah und der Rhein

Kurzgeschichte zum Thema Abenteuer

von  GroAda

Es war der erste Sommer nach dem Dreißigjährigen Krieg. Was er nicht verschlungen hatte, war von der Pest hinweggerafft worden. Dennoch spuckte er weiter seinen Auswurf auf jeden Flecken Erde. Einzelne Söldner oder ganze Horden stromerten wie hungrige Wölfe durchs Land. 

Hannah, einzige Überlebende ihrer Familie, stach in der Nähe des Rheins an einer kleinen Grube Lehm. Der Karren neben ihr war fast voll, als ihr Blick auf etwas fiel. In einiger Entfernung schlich auf der Straße, halb vom angrenzenden Weizen verdeckt, ein Hut mit einer langen Feder auf sie zu. 

Die junge Frau durchfuhr es wie ein Blitz. Den Rock weit nach oben gerafft, rannte sie ins Feld und Richtung Rhein. Unter dem Ansturm ihrer nackten Beine rauschten die grünen Ähren unaufhörlich zu Boden und verschmolzen zu einem schmalen Pfad. 

Der Mann sprang auf, als er dies bemerkte, und drängte von der Seite ins Feld. Seine Waffen klapperten so aufdringlich, dass Hannahs Herz ihre Füße überholte. An der Böschung am Fluss blickte sie sich um. Ihr den Weg abzuschneiden, war ihrem Verfolger nicht gelungen, aber gleich würde er ihre Spur erreichen. Nichts könnte ihn dann noch aufhalten. 

Hannah drehte sich zurück. Vor ihr lag eine dichte Barriere aus Bäumen, Sträuchern und Brombeerbüschen. Dahinter hörte man den mächtigen Strom. Wohin sie ihren Kopf auch wandte, blieb für Hannah nur der eine Weg, und der führte direkt in die Arme des Vater Rheins. In Windeseile liefen ihre Augen über das grüne Buschwerk. Kurz über dem Boden erspähten sie einen runden Durchlass, gerade so groß, dass Reh und Fuchs hindurch passten und schlüpfte hindurch. 

Aber kurz vor dem Ausgang verfing sich ihr Haar in den dornigen Armen der Hecke. Hannah hing fest. Zügig löste sie die kleine Sichel aus dem Hüftgürtel und mit festem Griff sauste die scharfe Klinge über ihren Kopf hinweg. Das Werkzeug durchtrennte das Haar wie ein Büschel Gras. Nun war sie frei und rutschte die Böschung hinab. Unten empfing das kühle Nass ihre Waden. Nur ein kurzes Frösteln. Schon lockten sie leichte Wellen weg von der Gefahr. Die Vögel hüpften zwitschernd in den Weiden und keine Wolke störte die Pracht der Sonne. Die warf ihre Strahlen auf das Wasser, als säte sie auf einem Acker Kristalle. 

Als Hannah bis zur Hüfte im Wasser stand, drehte sie sich um und spähte zum Durchlass. Nichts regte sich. Ihr Blick wanderte flussaufwärts und flussabwärts. Aber außer der Öffnung, durch die sie gehuscht war, war alles verschlossen. Auf dieser Seite schien sie in Sicherheit. Ein tiefer Atemzug hob und senkte ihre Brust.

Da bahnte sich ein breites Schwert seinen Weg durch das dichte Gestrüpp. Durch den Spalt grinste ein zerzauster Bart mit fauligen Zähnen. Seine Belohnung saß in der Falle. Hinter ihr der Fluss, links und rechts kein Durchkommen. 

Hannah erschrak und wandte sich ab. Mit den Armen rudernd, schob sie ihren Körper durchs Wasser Richtung Mitte. Je weiter sie sich vom Ufer entfernte, desto fester zerrte der Fluss an ihrer Kleidung. Die Strömung rupfte und saugte, dass es der jungen Frau Angst und Bange wurde. Schon schwappte das Wasser ihr bis zur Brust. 

Der Häscher aber war mit einem Sprung im Wasser, versank kurz, tauchte wieder auf und schritt auf sein Opfer zu, als hätte er alle Zeit der Welt. 

Panik flutete Hannahs Blut. Wieder und wieder schaute sie sich um, aber weit und breit keine Hilfe. Sie war allein.

Immer näher wälzte der Söldner seinen massigen Körper. 

Hannah ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Ihre Füße tasteten sich langsam rückwärts. Als nur noch ihr Kopf aus den Fluten ragte, krallten sich ihre Zehen fest in den Schotter. Ein Schwall klatschte ihr von hinten über den Kopf. 

Der Frühling war fast vorbei. Der Rhein führte aber so viel Wasser, dass es unmöglich war, durch ihn hindurch zu schwimmen. Nur große Boote mit erfahrenen Fischern wagten sich an dieser Stelle über die flüssigen Berge und Schluchten. Wirbel und Stromschnellen wie aus dem Nichts. Und Hannah fühlte: “Nur noch drei, vier Schritte und der Mann wäre bei ihr. Böse funkelten seine Augen. Nur noch drei, vier Schritte und der Rhein würde sie verschlingen. Böse schmatzten seine Wellen.”

Der Schurke aber sprang mit einem Satz nach vorn. Seine Pranke schnellte auf Hannah zu, verfehlte sie jedoch knapp. Wie ein Stromstoß schoss die Angst durch Hannahs Körper. Ihre Finger klammerten sich an das kleine Kreuz am Hals. Dann stießen sich ihre Zehen vom steinigen Boden ab. Hannah kippte nach hinten in die Strömung. 

Der sicher geglaubte Gewinn platzte im Gesicht des Mannes. Er hechtete nach ihrem Fuß, aber es war zu spät. Der Rhein war schneller. Gierig griff er zu. Ein Strudel erfasste die Frau und zog sie in sein Reich. Der Soldat erstarrte. Bis zu den Schultern im Wasser glotzte er ungläubig in den Fluss. 

Der Rhein aber freute sich über das Geschenk und spielte mit ihm. Seine Fluten warfen Hannah nach links und nach rechts. Nur kurz sah sie das andere Ufer. Es schien zum Greifen nahe. Dann riss er sie hinab und rollte sie über die Steine wie einen Kiesel. Die junge Frau schwamm um ihr Leben. Im hohen Bogen wurde sie aus dem Wasser geworfen und landete mit einem lauten Klatsch erneut im hungrigen Schlund. Eine neue Welle kam. Hannah holte Luft und drückte sich hindurch. Und noch eine. Aber die war nicht mehr so stark. 

Um Hannah herum wurde es ruhiger. Direkt vor ihr befand sich das andere Ufer. Oberhalb der Böschung grasten Kühe auf einer Weide. Aber der Fluss schlang seine Krakenarme um ihre Knöchel und zerrte sie zurück in die Tiefe. Mit schwindender Kraft erreichte Hannah die Oberfläche und holte tief Luft. Die Strömung wickelte sich wie eine sehnige Peitsche um ihren Körper und holte sie nach Hause in die reißende Flut. Ein letztes Mal presste Hannah sich aus den schäumenden Wogen. Aber ein wütender Sog erfasste die Frau und rauschte mit ihr zum Grund. Hannah sah hinauf, sah das Licht immer schwächer werden, aber für einen weiteren Versuch fehlte ihr die Kraft. 

Das Tosen verstummte. Der Rhein bettete sie in seinen Schoss wie ein langsam fallendes Blatt. Sie schloss die Augen und das Leben floss an ihr vorbei. Hannah dachte, wie gut es doch war, dem Söldner nicht in die Hände gefallen zu sein. Ihr Herz pochte leise immer langsamer und langsamer, wie der Schlag einer dumpfen Glocke.


Hannah tat einen tiefen Atemzug. Mit Macht strömte die Luft in ihre Lungen. Was war passiert? Etwas hatte sie mit festem Griff an der Hüfte gepackt, war mit ihr hinauf geschnellt und hatte ihren Kopf heraus gehoben. Wie ein Schiff eine Bugwelle vor sich her schiebt, schob jemand sie durch die Fluten zum Ufer. War es ein Fisch? Oder war es ein Mensch? Hannah schaute hinab ins Wasser. Ein junger Mann, nicht viel älter als sie, lächelte ihr von der anderen Seite entgegen. Seine Haut war mit hellen, blauen und grünen Schuppen übersät. Das blonde Haar tanzte im Spiel der Strömung. Bekränzt wurde es von Perlen, Muschelschalen und Seegras. Seine Augen aber strahlten wie mit Goldstaub gefüllte Schalen. Schon legte er sie im seichten Wasser an einen großen Stein und entfernte sich. 
Die Gedanken schwirrten Hannah durch den Kopf, als wolle ein Bienenvolk ihn besiedeln. Aber kurz darauf war es ihr, als hätte sie das alles nur geträumt. Sie schaute auf die andere Rheinseite, und da stand er im Wasser, ihr Verfolger. 
Er wurde zornig, als er sie erblickte. Wenn eine schwache Frau den Fluss bezwingen konnte, würde es für einen kräftigen Mann, wie er es war, kein Problem sein. Er tauchte ins Nass und erschien wenig später auf Hannahs Seite. 
Die traute ihren Augen nicht. War sie nur vom Fluss gerettet worden, um jetzt dem brutalen Grobian in die Hände zu fallen? Welches gemeine Spiel spielte der Fluss mit ihr? Zu schwach zum Flüchten starrte sie zitternd auf das Unausweichliche. 
Der Mann reckte sich aus dem Wasser. Mit wuchtigen Schritten bahnte er sich seinen Weg, kam näher und näher. Noch eine Armlänge und er wäre bei ihr. Als könnte sie ihn damit aufhalten, kniff Hannah ihre Augen fest zusammen.
Plötzlich baute sich hinter dem Wüstling eine hohe Welle auf. Sie überwältigte ihn und nahm ihn in den Schwitzkasten. Mit einem heftigen Ruck zog sie dem Unhold den Boden unter den Füßen weg. Die Welle entfernte sich und schliff ihren Fang hinter sich her, halb im Wasser und halb außerhalb. Dann ein Schrei und ein glucksendes Röcheln und alles war vorbei. Die Wogen glätteten sich. 
Tief saß der Schock in Hannahs Gliedern. Vor ihr im Wasser aber funkelte es. Sie raffte sich auf, ging darauf zu und sprach: “Vielen Dank, dass Du mich gerettet hast. Wie kann ich das wieder gut machen?” 
Ein Jüngling, so schön wie Adonis selbst, stieg aus den Wellen und antwortete: “ Einen Kuss hätte ich gern von Dir.”




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Kommentare zu diesem Text


 franky (08.12.23, 09:17)
Wunderschön erzählt. 

Grüße von Franky

 GroAda meinte dazu am 09.12.23 um 12:33:
Vielen Dank.

 tueichler (08.12.23, 22:36)
Eine schöne und phantastische Geschichte!

 GroAda antwortete darauf am 09.12.23 um 12:33:
Vielen Dank.
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