In der Gesamtheit meiner Wohnungen

Text zum Thema Traum/ Träume

von  FRP

Ich habe nur in wenigen Wohnungen gelebt; genau genommen, in vier. Und immer in der gleichen Stadt. Die ersten dreißig Jahre lebte ich in der Wohnung meiner Eltern, dann bezog ich im selben Haus eine andere Wohnung unter dem Dach, woselbst ich 6 Jahre verlebte. Dann zog es mich an den Rand eines großen Parks, für 10 Jahre, und in den letzten 13 Jahren lebe ich am Rand eines Auenwalds. In all meinen Träumen aber wohne ich immer noch in allen vier Wohnungen, sodass es täglich, positiv ausgedrückt: spannend ist, in welche ich nach der Arbeit einkehren werde. Negativ kolportiert, wird es zur täglichen Hölle. Ich wache oft auf, und weiß nicht, wo ich bin; oder bin sehr konfus darüber, dass ich in jener alten Wohnung bin; wo ich doch nach dem Aufwachen im Traum (und mir träume oft nur davon, ich läge im Bett und schlafe), gedacht hätte, ich wäre in der aktuellen. Aber siehe da, ich bin in einer alten. Die beiden ganz alten Wohnungen sind fast kafkaesk in ihren Erscheinungsformen; sie sind ziemlich beräumt; es sieht in ihnen fast aus wie in Abrissbuden. Die Tapeten sind vergilbt, hier und da steht ein altes Möbel; manches davon kenne und erkenne ich, anderes nicht. Auf den Briefkästen steht immer noch mein Name, und Post gibt es auch, ab und zu. Einige Hausbewohner scheinen mich noch zu kennen, und manchmal sprechen sie mich fragend an, warum ich nur noch so selten vor Ort sei. Ach, sie gehen heute mal nach oben – meinte eine alte Frau, der ich im Erdgeschoß begegnete, wo sich die meine Erstwohnung befindet in jenem Haus, dass mein Großvater 1906 zu seinem Eigentum machte. Vorher befand sich hier unten eine Werkstatt, deren Fenster vergittert waren. Die Gitter wurden entfernt, außer in der Küche, welche Hofseitig liegt. Mein gesamtes Leben dort wurde ich damit konfrontiert, dass, wenn ich zum vergitterten Fenster der Küche auf den Innenhof hinausschaute, immer jemand fragte, ob ich im Knast sei. In gewisser Weise fühlte ich mich tatsächlich wie im Knast; zuerst in den engen Grenzen der DDR, und dann auch wie ein Gefangener im eigenen Leben, dem ich gerne entkommen wäre. Nach dem Tod meiner Mutter, als unsere Familie das Haus verkaufte, zog ich unters Dach. Das Haus war miserabel gedämmt. Gerade der Dachboden wurde weder Trittschall-schützend isoliert, noch gab es überhaupt irgendeine Form von Schallschutz.

 

Warum ich die alten Wohnungen noch aufsuche, kann ich nicht sagen. Es geschieht einfach von selbst, und wenn es geschieht, erscheint es folgerichtig. Trotzdem bin ich immer etwas verwundert. In den beiden ganz alten gibt es keinerlei Komfort, höchstens ein paar Bücher. Ich musste froh sein, dass dort noch jeweils eine Schlafstelle für mich vorhanden ist. Alles war staubig und verfallen, und mit Nahrungsmitteln war da nicht viel los. Fernseher, Stereoanlage, Telefon? Nothing. Niente. Nada. Vielleicht ein alter Plattenspieler; ein paar verstaubte LPs. Wie konnte ich mir nur die Miete und die Stromrechnungen für vier Wohnungen leisten? Fungiere ich als Tourist meines eigenen Lebens? Komme ich nur vorbei, um die Briefkästen zu leeren, und bleibe dann zur Nacht? Wenn ich früh aufwache, muss ich auch die Länge des jeweiligen Weges zur Arbeit mit einberechnen, und rechtzeitig aufbrechen. Um rechtzeitig aufzubrechen, muss ich vorher aber rechtzeitig aufwachen. Das ist schon ein ziemlicher Stress. Es ist immer wieder interessant, in welche der vier Möglichkeiten ich mich am Ende eines jeden Tages begeben werde. Ich kann nicht sagen, wie das kommt. Ich sehe mich am Ende eines Tages einfach in den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs in eine der vier Wohnungen. Mehr darüber weiß ich nicht.



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