Die "Alte Liebe"

Der Hafen verdöste das Morgenrot,

orange malte sich jedes Haus,

noch schlafend und wellend lag Boot an Boot,

die Fischer, die waren längst raus.

Der Tag trieb die Nachtschatten vor sich her,

durch Straßen und Gassen zum Kai,

dort glitten sie haltlos hinab ins Meer,

begleitet von Möwengeschrei.

Die See rauschte ruhig, der Wind blies rau,

ein Schwalbenpaar flog wolkenlos,

am blumigen Stand saß die graue Frau,

das Enkelkind auf ihrem Schoß.

Die tägliche Malerin schaute schon

das Neualte auf Staffelei,

ein Schifferklavier sang den ersten Ton

und rief sich die Ferne herbei.

Der Krabbenverkäufer bot Frische feil,

Mariechen, die krumte das Brot,

es kam nahen Fliegern gerecht zuteil.

Der Frühtrinker hielt noch das Lot.

Am sündigen Haus verlosch jedes Licht,

ein Letzter ging lächelnd davon.

Jan-Heinrich, der Weißbart, zeigte Gesicht,

vor Annegrets Damensalon.

Er sang rauchgeraut zum Akkordeon

manch trauriges, fröhliches Lied,

und bei ihm lag Schiffshund Napoleon,

der jede Bewegung vermied.

Der Albatros Piet hockte still dabei

und putzte sein schwarzweißes Kleid.

Der Seebär erzählte zur Melodei

Erlebtes aus Seefahrerzeit.

Die Leute, die standen gefesselt da,

sie haben geweint und gelacht,

und ihn, der so fern war und doch so nah,

mit Münzen und Scheinen bedacht.

Am Nachmittag saß er auf seiner Bank,

im Stammlokal, fürs Wort auf Wort,

und erst abendspät, nach Speise und Trank,

ging er mit den Freunden an Bord.

Er sprach mit der „Alten“, wie jede Nacht,

strich zärtlich die hölzerne Wand.

Bei Kälte und Sturm hat sie ihn bewacht,

im ächzenden Eisengewand.

Er hat sie vor Rost und Moder bewahrt,

das Segelschiff war sein zuhaus,

und trägt ihn dereinst, auf der letzten Fahrt,

zur Ewigkeit aufs Meer hinaus.

©Sigrun Al-Badri/ 2024