Der Kindergeburtstag

Gleichnis zum Thema Wahrheit

von  Graeculus

Zum Fünfjährigen ihrer Tochter Kirsten hatten sich die Eltern etwas einfallen lassen für die fällige Geburtstagsfeier: In den Zoo wollten sie mit den Kindern gehen und hatten dort ein Spiel arrangieren lassen. Die Kinder bekamen die Augen verbunden, wurden dann zu einem Elefantenjungen gebracht, das, wie man ihnen versichert hatte, freundlich und geduldig war. Jedes Kind wurde an einer bestimmten Körperstelle des Tieres gebracht und sollte durch Tasten nur an diesem Teil feststellen, worum es sich handelte.

Tobias war der erste, befühlte den Rüssel und war sich sicher, daß es sich um eine Schlange handelte. Marc als zweiter betastete ein Ohr und stellte fest: ein großes Blatt. Yvonne hatte ein Bein gefühlt und erkannte es als Baumstamm. Holger sodann befühlte die Seite des Tieres, war sich nicht ganz sicher, entschied sich schließlich für eine Wand. „Eine Speerspitze“, meinte Jens, der an den noch kleinen Stoßzahn des Elefanten geraten war. Kirsten, das Geburtstagskind, kam als letztes an den Schwanz: „Das ist ein Seil, es hängt herab, und wenn man daran zieht, regnet es A-a.“

So hatte jeder seine Wahrheit geprüft und gefunden. Groß war die Überraschung, als den Kindern die Augenbinden abgenommen wurden.

Zwanzig Jahre später studierte Kirsten Journalismus und Kulturwissenschaften. Dabei stieß sie auf den Mythos der verschleierten Isis von Saïs, zu dem es heißt:

In Saïs gab es eine Sitzstatue der Athena, die die Ägypter auch als Isis verehren; sie besaß eine Inschrift, die etwa so lautete: „Ich bin alles, was war und ist und sein wird, und mein Gewand hat noch kein Sterblicher gelüftet [ἐγώ εἰμι πᾶν τὸ γεγονὸς καὶ ὂν καὶ ἐσόμενον, καὶ τὸν ἐμὸν πέπλον οὐδείς πω θνητὸς ἀπεκάλυψεν].“


Kirsten erinnerte sich dabei an ihre einstige Geburtstagsfeier. Damals hatten sie nur Deutungen gehabt und die Wahrheit erst erkannt, nachdem man ihnen die Augenbinden abgenommen hatte. Hier war von einer Wahrheit die Rede, die uns allen verschleiert ist und keinem Sterblichen enthüllt wird. Gibt es etwas, so fragte sie sich, das erst die Toten wissen werden?



Anmerkung von Graeculus:

Für das Elefantentasten danke ich dem Buddha und seinem Elefantengleichnis (Udâna VI, 4).

Die Inschrift der Isis ist überliefert bei Plutarch in seiner Schrift „Über Isis und Osiris“ (Moralia 345 C).

Friedrich Schiller hat daraus die Ballade „Das verschleierte Bild von Saïs“ gestaltet, in welcher der gewaltsame Versuch eines jungen Mannes, die Isis nackt zu sehen, die Wahrheit unverschleiert zu erkennen, ein übles Ende nimmt.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (04.04.24, 15:19)
Das Gegenteil eines Sterblichen ist ein Unsterblicher, das Gegenteil eines Toten ist ein Lebender.

LG Gina

 Graeculus meinte dazu am 04.04.24 um 22:22:
Da ist was Wahres dran. Da ich aber die Zeit nach dem Tod im Sinn habe, muß ich überlegen, ob die Geschichte irgendwie doch funktioniert, mit der unsterblichen Seele etwa.
Gemeint ist das mit dem Isis-Zitat vermutlich nicht. Da hakt also etwas.

 FrankReich antwortete darauf am 04.04.24 um 23:20:
Das Gegenteil eines Sterblichen wäre ein Unsterblicher, wenn es denn Unsterbliche gäbe. 😇

 LotharAtzert schrieb daraufhin am 04.04.24 um 23:38:
Frank, es muß heißen "falls es denn Unsterbliche gibt", sonst hast du das das schon für alle verbindlich ausgeschlossen, obwohl es nur deine Vermutung ist, daß es keine gibt.

Antwort geändert am 04.04.2024 um 23:45 Uhr

 FrankReich äußerte darauf am 05.04.24 um 00:39:
Bisher hat es in der Geschichte der Menschheit noch keine Unsterblichen gegeben, Lothar, ich erinnere zusätzlich an die Prämisse, dass alle Menschen sterblich sind. 🙂

 LotharAtzert ergänzte dazu am 05.04.24 um 09:13:
Ach so, es sind nur Menschen gemeint. Das kam aber bisher so nicht zur Sprache, Frank, sondern nur allgemein die Unsterblichen, von denen Sterbliche angeblich nichts wissen.

An dieser Stelle darf ich drauf hinweisen, daß auch noch niemand den Raum gesehen, gehört, angefasst usw. hat und trotzdem gibt es ihn, da wir alle in ihm wohnen.
Wenn schon Buddhismus, denn schon ...

 FrankReich meinte dazu am 05.04.24 um 10:20:
Solltest Du Dich bzgl. der Unsterblichkeit auf diesen 10000 Jahre alten Schwamm beziehen, so ist der nur potentiell unsterblich, Lothar, der Glaube an die Existenz von Göttern sowie sonstigem Spuk ist mir zu theoretisch und den Raum gäbe es auch ohne die Menschheit, aber wer wüsste das schon?

 LotharAtzert meinte dazu am 05.04.24 um 10:53:
"Hello hello, I do'nt no why you say good bye, I say hello" -
solange du auf Gleichnisse mit Intellektualismen antwortest, reden wir aneinander vorbei, Frank.

 Regina meinte dazu am 05.04.24 um 12:00:
@FrankReich: ...eine recht moderne Ansicht, dass es keine Ewigkeit gebe.

 Graeculus meinte dazu am 06.04.24 um 14:54:
Gemerkt habe ich schon bei Reginas Einwand, daß mit meinem Schluß etwas nicht stimmt. Die weiteren Reaktionen bestätigen es.

Mein Text besteht aus drei Teilen:
1. Es wird gesagt, daß Menschen nur ihre jeweilige Perspektive auf die Wahrheit, den Elefanten, haben, die aber dazu neigen, diese Perspektive zu der Wahrheit zu verabsolutieren.
2. Es wird ausgedrückt, das es zwar die Wahrheit gibt, sie uns Menschen (Sterblichen) allerdings grundsätzlich verschlossen bzw. verhüllt ist.

Das sind nun zwei Aussagen, über die man nachdenken und sprechen kann.
Mein Eindruck ist der, daß viele Menschen dem grundsätzlich zustimmen, ohne daß das in konkreten irgendeine Bedeutung hätte: Da ist fast immer die eigene Position wahr, während allen anderen, vor allem Andersdenkenden, lediglich eine Perspektive zugebilligt wird.

Dann kommt die 3. Aussage, und auf die konzentriert sich hier in der Diskussion alles: Haben wir die Chance, jemals in einen Zustand zu gelangen, in dem wir die Wahrheit erkennen? Nach dem Tod? In mystischer Vereinigung mit ...?
Da ich sterblich bin und die Wahrheit nicht kenne, kann ich das nur als Frage formulieren. Und als Sehnsucht.
Falls 1 und 2 richtig sind (wahr sind?), dann weiß auch kein anderer von uns mehr.

 FrankReich meinte dazu am 06.04.24 um 15:26:
Wenn nichts absolut ist, dann kann auch die Wahrheit es nicht sein, viele Menschen neigen jedoch dazu, sie zu verabsolutieren und deshalb kann es schon manchen in den Wahnsinn treiben, wenn er erfährt, dass er die ganze Wahrheit nie erfassen wird und nicht wenige suchen daher die Offenbarung im Glauben ans Jenseits, etc. 
Es ist nicht leicht, sich ohne Notnagel abzufinden und natürlich finde ich es schade, dass ich an der Entwicklung (auch bzgl. der Wahrheit) in absehbarer Zeit nicht mehr teilhaben werde, aber noch ist ja Zeit, so einiges zu erfahren und besonders, das zu genießen. 👋😎

 Graeculus meinte dazu am 07.04.24 um 16:18:
Zustimmung. Manche perspektivischen Erfahrungen sind interessant, sogar faszinierend. Daß es lediglich Perspektiven sind, in denen ein so und so eingestelltes Subjekt, also unter bestimmten Prämissen, sich eine Wahrheit deutet, sollte man dabei nicht vergessen. Das könnte auch viele Auseinandersetzungen entschärfen. Wieviel Streit wird dadurch ausgelöst, daß jemand die Wahrheit für sich beansprucht!

Immerhin mag es unter den verschiedenen möglichen Perspektiven bessere (z.B. ehrlichere) geben und schlechtere.

 LotharAtzert (04.04.24, 16:40)
Na wenigstens die Quellenangabe gemacht. Was will man mehr ...

 Graeculus meinte dazu am 04.04.24 um 22:24:
Ehre, wem Ehre gebührt. Allerdings habe ich Buddhas Gleichnis doch etwas verfremdet, wie Du sicherlich weißt.

Gerne weise ich darauf hin, daß es zahlreiche wunderbare Gleichnisse von ihm/unter seinem Namen überliefert gibt.

 LotharAtzert meinte dazu am 05.04.24 um 10:03:
Gibt es etwas, so fragte sie sich, das erst die Toten wissen werden?
Meditation ist ja nichts anderes, als eine Art zeitlich begrenztes Totsein - mit anschließendem Wissen (oder bewußter Erfahrung) des Lebenden.

Antwort geändert am 05.04.2024 um 10:31 Uhr

 S4SCH4 (04.04.24, 23:09)
Ja die Toten „…“ mehr. Ich würde es nicht „wissen“ nennen, aber sollte mir mal etwas passendes einfallen, poste ich es hier. Woher ich das eigentlich zu wissen meine? Ich werde lange überlegen müssen und mir wird nichts einfallen, außer einem „Ja“.

 Graeculus meinte dazu am 06.04.24 um 14:56:
Nun, ich kenne nur Berichte über mystische Erfahrungen. Und weiß nicht, was ich davon halten soll.

 Mondscheinsonate (05.04.24, 00:44)
Das ist mir zu spirituell, tot ist tot, aus die Maus. Daher heißt es, das Wissen zu Lebzeiten aufzusaugen, seinen Geist in die Erkenntnis zu führen.
Mir fehlt bei deinen Ausführungen die Freude der Kinder als sie Erkenntnis bekamen. Das ist enorm wichtig, sonst ist sie komplett sinnlos.

 FrankReich meinte dazu am 05.04.24 um 00:58:
... und mir ist das zu theoretisch. 😂😂

 Mondscheinsonate meinte dazu am 05.04.24 um 08:18:
Ja, aber es hat schon so Hare Hare - Sprenkel.

 LotharAtzert meinte dazu am 05.04.24 um 09:25:
Die Erkenntnis muß einen Nutzen haben, sonst hat sie Hare Hare - Sprenkel?? - ?

Antwort geändert am 05.04.2024 um 10:55 Uhr

 Mondscheinsonate meinte dazu am 05.04.24 um 09:38:
Keinen Nutzen, sondern Freude. Erkenntnis ist doch auch, im Übrigen, rein eigennützig. Im Übrigen ist dieser Text Hare Hare, nicht die Erkenntnis.
P.s. Siehe die Vorträge von Hüther.

Antwort geändert am 05.04.2024 um 09:39 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 06.04.24 um 15:04:
In der Hare-Krishna-Tradition sehe ich mich nicht. Zumal, wie ich oben schrieb, der Schluß des Textes zwar hier in der Diskussion, nicht aber in meiner Intention zentral ist.

Ausdrücken wollte ich mit dem Schluß eine Stimmung wie bei Ludwig Hirsch:

Und dann fliegen wir auf,
mitten in Himmel eine,
in a neue Zeit, in a neue Welt.
Und ich werd’ singen, ich werd’ lachen,
ich werd’ „des gibt’s net!“ schrei’n,
weil ich werd’ auf einmal kapieren,
worum sich alles dreht.

Endlich kapieren, worum sich alles dreht! Statt nur einen kurzen Einblick hier, eine Perspektive auf jenes usw.

Wie schon Regina zugestanden: Der Schluß ist mir nicht gut gelungen. Und ja, für gute Literatur hätte man auch den Kindergeburtstag lebendiger schildern können. Da handelt es sich nicht um mehr als einen Versuch, ob man das Buddha-Gleichnis, das von einem König und seinen blinden Weisen handelt, in eine moderne Situation übertragen kann.

 Mondscheinsonate meinte dazu am 06.04.24 um 16:28:
Nicht lebendiger, Graec, nur so wie Kinder reagieren: Sie freuen sich!

 Graeculus meinte dazu am 07.04.24 um 15:23:
Der Ausdruck der Freude hätte auch gut gepaßt zu dem Gefühl, das Ludwig Hirsch ausdrückt, den ich dabei - zunächst unerwähnt - im Sinn hatte.

Fazit: Ideenliteratur, erzähltechnisch einer Überarbeitung bedürfend.

 Graeculus meinte dazu am 07.04.24 um 15:24:
Aber keine Hare-Krishna-Literatur! Das sei fern von mir.
Gauguin, Paul (57)
(05.04.24, 01:20)
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 Graeculus meinte dazu am 07.04.24 um 15:29:
Hatten wir über den Plutarch nicht schon einmal gesprochen? Habe ich Dir seine "Moralia" nicht schon ans Herz gelegt? Ich meine mich zu erinnern ...

Den Schleier der Isis zu lüften, könnte eine Epiphanie bedeuten, würde nicht so deutlich gesagt, daß uns Menschen das unmöglich ist.

Die Antwort, die wir nach dem Tode erhalten, könnte die mittelalterliche auf die Frage sein, ob unser Zustand nach dem Tode so ist, wie wir ihn kennen (taliter), oder anders (aliter): Nec taliter nec aliter sed totaliter aliter.

Das sagt zwar nichts Bestimmtes, aber doch immerhin, daß wir alle unsere Vorstellungen in die Tonne klopfen können. "Die Wahrheit" ist nichts, was wir begreifen können.

 AngelWings (05.04.24, 08:55)

  1. Jaccandhavagga (Die Blindgeborenen)
Man sage die Seele kann sehen: Rain es schon beschreibt! Taste,Hören, Fühlen, und schriechen!
Gauguin, Paul (57)
(08.04.24, 16:51)
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 Graeculus meinte dazu am 09.04.24 um 15:07:
Vgl. Paulus 1 Korinther 13, 9-12. Da äußert er sich deutlich dazu.
Gauguin, Paul (57)
(09.04.24, 20:17)
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Gauguin, Paul (57)
(09.04.24, 22:08)
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 Graeculus meinte dazu am 10.04.24 um 13:52:
Jetzt ist es klar.
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