Heimweg

Parabel zum Thema Alltag

von  S4SCH4

T. fragte sich auf seinem Heimweg von der Arbeit, was mit der Welt nur los sei. Hunger. Armut. Faschismus. Der Mann kam gerade aus der U-Bahn, hatte dort die heutige Zeitung gelesen und ging den Rest der Strecke, bis zu seinem Apartment, nun zu Fuß. Mit seinen Kopfhörern im Ohr, sinnierte er über die just gelesenen Nachrichten weiter nach, als ihm ein aufgebrachter Mann in Camouflage entgegenkam. Der entgegenkommende Mann fuchtelte mit den Händen und stand bald vor T, schrie diesem förmlich ins Gesicht und machte so äußerst aufdringlich auf sich aufmerksam. Die Kopfhörer mit zitternden Händen abnehmend, blickte T. den Mann in seiner grünen Tarnmusteruniform genauestens an. So schaute er gerade auf das Barett des Uniformierten, als jener lautstark schrie: „Junge was tust du hier? Es ist Krieg!“. T.s Hände zitterten nach wie vor, er befand sich bereits in natürlicher Alarmbereitschaft und dachte sich nur „Was für ein Irrer! Wenn Erwachsene sich wie Kinder verhalten!“. T. nickte dem Mann schließlich entgegen, packte die Kopfhörer in seine Arbeitstasche und ging dem Mann aus dem Weg, weiter den gewohnten Heimweg antretend. Nach fünf Minuten, T hatte mittlerweile aufgehört zu zittern, rief seine (Noch)-Freundin an und entschuldigte sich bitterlich für einen Streit, den beide gestern Abend führten. Sie hätte es nicht so gemeint und würde nicht wollen, dass sie fortan so in einem Krieg miteinander leben müssten. T. hörte sich das Gewäsch seiner Freundin zähneknirschend an, denn die Erinnerung an den Abend zuvor machte ihn immer noch wütend. Von Zeit zu Zeit nahm er den Hörer von seinem Ohr fort, um nicht gänzlich auszurasten, denn ihre weinerliche, brüllende und flehende Stimme machte ihn in Anbetracht der gestrigen Erfahrung mit ihr, nur noch wütender. „Jaja, sagte er immer wieder und legte schließlich auf.“ Nach weiteren fünf Minuten auf seinem Gehweg, traf er auf ein kleines Mädchen, das etwa fünf Jahre alt sein mochte und scheinbar alleine herumlief. Mitleidsvoll kniete er sich hin und fragte was los sei; wo ihre Eltern wären und warum sie alleine herumlief. Das Mädchen schwieg und zeigte mit dem Finger in Richtung eines alten Mehrfamilienhauses, in dem es lautstark zuging, was man durch die geöffneten Fenster des Gebäudes nur allzu gut auf der Straßen hören konnte. T. begleitete das Mädchen zu dem Haus, ging durch den Hinterhof und betätigte die Haustürklingel. Keiner meldete sich. Daraufhin bemerkte T, wie die Tür einen Spalt weit offenstand. Kurzerhand versicherte er sich des Wohlergehens der Kleinen, die sich immer noch neben ihm aufhielt und weiter in das Haus zeigte. T. ging in den weiterführenden Flur des Gebäudes hinein und stand bald, vor dem Zimmer in dem es so lautstark zuging. Er schaute ein weiteres Mal zu er Kleinen und klopfte schließlich an der Tür. Es wurde mucksmäuschenstill. „Hallo?“ fragte er. „Vermissen Sie ein kleines…“. Noch bevor er den Satz vollenden konnte, sprang die Tür auf und ein großer Mann packte ihn am Kragen, schleifte ihn in das Zimmer und ließ ihn nicht mehr los. Er bemerkte bald, wie sich zwei starke Hände von hinten um seine Kehle schnürten und ihm eine Reden unmöglich machten. Während der Mann, der direkt vor T stand, eben jenen aufforderte sich zu erklären, erdrückte ein anderer Mann -oder eine sehr starke Frau- ihm von hinten die Kehle zu und vereitelte etwaige Erklärungsversuche. T. zeigte mit letzter Kraft auf die Tür, vor der das kleine Mädchen stand. Alles was er von da an vernehmen konnte war schwammiges Durcheinander: „Es ist der Feind. Er ist gekommen und schändet unsere Kinder.“ T. sank zu Boden und verlor sein Bewusstsein.

-Ende

 

 

Deutung:

Der ahnungslose, sich mit den Leiden der Welt beschäftigende T, hat auf seinem üblichen Heimweg, Kontakt mit mehreren Menschen und verliert schließlich sein Leben. Was steckt hinter einer solchen profan scheinenden Erzählung?

Auch wenn T. eine direkte Antwort auf lebensnahe, ja ihm direkt betreffende Fragen erhält, Fragen die er sich im Zuge seiner Zeitungslektüre zum Zustand der Welt noch selbst gestellt hat, kommt die Antwort bei ihm nicht an. 

Es herrscht Krieg. In erster Linie: Zwischenmenschlicher und man spielt mit dem Transfer dieses Krieges auf die reale, physische Ebene. T. nimmt den Wald, vor lauter Bäumen, nicht wahr. T. schweift in die Ferne, in die weite Welt und „zu Hause“ überrascht ihm das Grauen hinterrücks. Trotz vieler Warnzeichen, trotz der Frage was in der Welt nur los sei, findet sich ihm die Antwort, die ihm sein Leben hätte sichern können, nicht. Ein zentraler Aphorismus, der dem Text zu Grunde liegt- und sein Auslöser war, lautet:

„Es gibt viele Antworten auf bewegte Themen, wäre da nicht die Fragwürdigkeit einer (allzu starren) Komplexität.“

Will sagen: Die Antworten an sich liegen oft nahe. Doch das Durchdringen und das „Durchringen“ diese anzunehmen, zu verarbeiten und/oder weiterzugeben ist eine „Komplexität“, die auf mindestens einmal, zwei Ebenen stattfindet (Sender und Empfänger). Einzigartig macht diese eher allgemeine und wahrscheinlich schon irgendwo getroffene „Erkenntnis“, das Geflecht aus Autorität, Beziehung und Mitleid, das sich T. als Geschehen in den Weg stellt.         

Die Autorität, im Sinne der kindlichen Erziehung, konnte T. nicht (mehr) überzeugen. Es tat es als irre, als Kinderkram, ab. T hat keine offenen Ohren mehr für die direkte Einfachheit, was die Kopfhörer, die T. daraufhin verstaut, symbolisieren könnten.        

Die Beziehung, hier im engeren Sinne als konventionelle, voreheliche Beziehung zwischen zwei Menschen betrachtet, brachte ihm ebenfalls keine wirksame Warnung. Auch wenn ihm seine Freundin von Krieg redet, setzt sie wohl gewisse Sachen, einen Informationsgehalt voraus oder kann sie in ihrer emotionalen Aufgeladenheit nicht hinreichend rüberbringen, T. hört ihr dabei nur sporadisch zu, was weiterführende Komplexität bedeutet, da sich die Informationen fragmentieren und abbröseln, und so weiter.      

Das ihm das Mitleid schließlich den Todesstoß versetzt, ist weniger Ironie des Schicksals als vielmehr Zeichen seines Charakters (siehe Zeitungslektüre am Anfang des Textes). Sein Mitleid in Ehren, doch was ist es wert, wenn man dabei nicht im Stande ist, selbst „(selbst)wahrend“ zu leben? Mitleid ein Selbstzweck!? Wohl kaum. Wohl eher Rückzugsort für…naja lassen wir das an dieser Stelle.

Das T. zum Schluss selbst noch als Feind bezeichnet wird, als Schänder, zeigt den schnell invertierenden Fall eines Schauplatzes, auf dem Krieg herrscht. Fressen oder gefressen werden. Farbe bekennen. Mitleid ist gut, aber ist es gut genug um zu überleben? Man muss sich beizeiten entscheiden, auf welcher Seite man steht und das mit dem vorliegenden Informationsgehalt. Man hat nicht unendlich Zeit, sich mit der Komplexität von Themen zu beschäftigen, sie auf sich zukommen und wirken zu lassen. Sie (die Themen, als Tatsachen) nehmen sich sonst früher oder später einer selbst an.




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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (09.04.24, 09:01)
Beide -> beide

Was ist 1ln?

"Kindekram" ist lustig, passt aber hier nicht.

Kommentar geändert am 09.04.2024 um 09:02 Uhr

 S4SCH4 meinte dazu am 09.04.24 um 10:40:
Ich werde das zu berücksichtigen wissen. Danke.

 Dieter_Rotmund (09.04.24, 09:03)
Interessantes Konzept, eine Deutung zu liefern, aber ich als mündiger Leser brauche das nicht.

 S4SCH4 antwortete darauf am 09.04.24 um 10:39:
Deswegen steht es ja extra darüber. 
Danke für die Empfehlung.

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 09.04.24 um 13:18:
Ja, formal soweit korrekt. Aber was veranlasste Dich, gleich anschließend eine Deutung zu liefern? Unsicherheit?

 S4SCH4 äußerte darauf am 09.04.24 um 13:31:
Interessant. Sagen wir mal das Stichwort, oder die Kategorie "Parabel" bot mir eine Deutung förmlich an. Da hab ich gleich "Nägel mit Köpfen" gemacht. 

Ich hätte natürlich eine Weile warten können. Aber die Texte hier sind bisweilen so kurzlebig, da ist man doch am nächsten Tag fast schon wieder raus aus dem "Gespräch".

vg

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 09.04.24 um 13:37:
Gehe mit deiner Deutung bis zum Aphorismus d'accord. Finde aber nicht , dass es um Antworten geht.

 S4SCH4 meinte dazu am 09.04.24 um 13:45:
Ja, den Gedanken hatte ich auch (nach / vor dem Apho). 

Vielleicht ließe sich über den Begriff "Antworten" streiten...aber ob es nun Sinn, Erkenntnis etc. genannte wird, ist mir bei dem Text zweitrangig.
"Antworten" unterstreicht die reale Lebenswirklichkeit nochmal, finde ich.

Antwort geändert am 09.04.2024 um 14:06 Uhr
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