Darf ich...?

Text zum Thema Liebeserklärung

von  Ricardo

Chris holte zwei Gläser aus dem Küchenschrank, trug sie nach draußen auf die Terrasse, stellte das eine auf den Boden und das andere auf eine Bank.
Die Decke roch nach ihr, als er sie sich um die Schultern legte. Ihm schossen Bilder von ihr durch den Kopf und ihm wurde schwindelig, so als läge er im Sterben und außer ihr hätte es nichts in seinem Leben gegeben, worauf er zurückblicken könne. Ihm wurde schlecht, er wusste nicht ob er es ihr heute würde sagen können. Doch bevor er es sich anders überlegen konnte stand sie schon in der Tür mit der Flasche Wein und lächelte ihm sanft entgegen, voller oberflächlichem Vertrauen. Langsam kam sie näher und setzte sich ohne ein Wort zu sagen vor ihn auf den Boden. Sie nahm die Gläser, füllte sie und gab Chris eines davon. Ihre Hände berührten sich für einen Moment. Chris hielt den Atem an.
Sie drehte sich mit dem Rücken zu ihm und legte den Kopf zwischen seine Beine.
"Es ist schön hier mit dir zu sitzen.", brachte er leise hervor.
"Ja, das finde ich auch." Wie hatte er das zu verstehen? Um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen legte er ganz sachte seine Hände auf ihre Schultern und begann in kreisenden Bewegungen mal weniger und mal mehr Druck auszuüben. Er wusste, dass sie es besonders mochte wenn er ihren Nacken massierte. Also fuhr er langsam mit den Händen ihren wunderschönen, schlanken Hals hinauf, nahm ihr Haar beiseite und kreiste liebevoll mit beiden Daumen auf ihrem Nacken. Ihm fiel erneut das kleine Muttermal auf der linken Seite ihres Nackens auf. Er wusste noch nicht mal ob es ihr selbst je aufgefallen war, denn normalerweise verschwand es hinter ihren braunen langen Haaren. Ihren Haaren, die dufteten wie eine einsame Rose auf einer Klippe, während er, am andern Ufer stehend, ihren Duft nur erahnen konnte. Leise hoffte er, er sei der Einzige der das Muttermal je bemerkt hatte.
Er war ihr bester Freund, sie war seine beste Freundin. Und etwas mehr. Nicht nur, dass sie mehr von ihm wusste als jeder andere Mensch, sie respektierte ihn auch voll und ganz und machte ihm selbst für seine Fehler nie Vorwürfe.  Sie war voller Liebe für die ganze Welt, sah in jeder kleinsten Sache die vollkommene Schönheit. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie selbst so schön war, dass es ihm wehtat sie anzusehen.
Chris hörte auf sie zu massieren, lehnte sich vornüber und umarmte sie. Sie waren so vertraut miteinander, dass er ihre Arme streichelte als wären sie ineinander verliebt - und nicht nur er in sie.
"Soll ich noch eine Flasche Wein holen, Chris?"
"Nein. Lass uns lieber schlafen gehen."
Er wusste, dass sie nicht in einem Bett schlafen würden (auch wenn er sich nichts mehr als das wünschte), aber sie würden zumindest in einem Raum schlafen und er würde bei Kerzenschein mit ihr reden können, ihr die Geschichte erzählen können. Die Geschichte… Er würde all seinen Mut zusammen nehmen müssen um ihr seine Liebe zu gestehen.
Sie gingen zurück in das große Haus, das ziemlich verlassen wirkte. Ihre Eltern waren in Urlaub gefahren und so waren sie ganz alleine. Überhaupt war er solch große Räume nicht gewohnt, sodass sie ihn anfangs eingeschüchtert hatten. Mittlerweile jedoch fühlte er sich hier wohler als je zuvor in seinem Leben. Wahrscheinlich lag das an ihr. Sie gab ihm überall das Gefühl Zuhause zu sein.
In ihrem Zimmer machte er sich seinen Schlafplatz neben ihrem Bett. Während sie ihre Schlafsachen anzog hatte er die Möglichkeit ihren Körper zu betrachten. Er musste fest schlucken um nicht zu seufzen. Sie zündete zwei große Kerzen auf ihrem Nachttisch an und ließ sich auf ihr Bett fallen. Chris hatte sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen, er konnte nicht wegsehen. Sie erzählte ihm was sie in den nächsten Tagen vorhatte, aber er konnte sich nicht darauf konzentrieren. Der Wunsch direkt neben ihr zu liegen wurde immer größer. Mitten im Satz unterbrach er sie: "Darf ich zu dir ins Bett kommen?"
Er schämte sich sofort für seine Direktheit. Doch ohne Grund, denn das Einzige was sie nicht konnte war "nein" zu sagen. Nach einer kurzen Pause nickte sie mit dem Kopf und er kroch unter ihre Decke, legte seinen Arm um sie und vergrub sein Gesicht tief in ihrem Haar. Es war so offensichtlich, dass er sie mehr als nur mochte, aber sie schien es noch nicht einmal jetzt zu begreifen. Trotzdem: So weit wie er nun gegangen war, konnte er keinen Rückzieher mehr machen. Es war der perfekte Moment ihr die Geschichte zu erzählen.
"Willst du eine Geschichte hören?"
"Ist sie wahr oder erfunden?"
"Entscheide das selbst, wenn du sie gehört hast."
"In Ordnung."
Er räusperte sich, bekam Gänsehaut, dachte, dass er gleich in Ohnmacht fallen würde, freute sich zu liegen und machte weiter.
"Es war einmal ein kleiner Junge mit strohblonden Haaren.“, fing er an. „Schon früh wurde er mit unerfüllter Liebe konfrontiert. Seine Eltern stritten sich oft – ‚Wie das halt so ist, wenn man lange zusammen ist.’, dachte er. Aber tief im Innern wusste er, dass sie sich einfach nur nicht mehr liebten. Seine gewohnte Welt war lieblos und er setzte sich zum Ziel zu lernen wie man mit ganzem Herzen liebt. So zogen also die Jahre an ihm vorbei und einige Mädchen kreuzten seinen Weg. Die meisten blieben nur für Momente, für die Dauer eines Lidschlages. Sie kamen und gingen, hinterließen kleine Narben in ihm, die es ihm erschwerten Vertrauen in die Liebe zu finden, doch zugleich auch anspornten weiter nach der einen, der wahren Liebe zu suchen. Nur ein Mädchen blieb ihm jahrelang erhalten. Wenn auch nur in seinem Herzen. Sie war das komplette Gegenteil von ihm, zumindest schien es so. Er war durch die Suche nach Liebe labil geworden und hatte sich oft auf hohen Brücken stehen und den letzten Schritt machen sehen – Sie hingegen war der Inbegriff von Glück. Ehrlichem Glück. Sie brauchte keine Maske, sie war wie sie war: Zufrieden. Und diese innere Schönheit trug sie nach außen, so dass der, mittlerweile nicht mehr so kleine, aber immer noch blonde, Junge in ihrer Gegenwart zwar immer glücklich war, um nicht zu sagen, ausschließlich bei ihr glücklich war, aber sich auch immer ein wenig Fehl am Platze vorkam. Er war nicht intelligent, nicht begabt. Er war ein normaler Junge,  zwar gesund und kräftig, doch nicht wirklich gutaussehend, hatte keinen schlechten Charakter, war kein guter Sportler, war nicht reich und wusste noch nicht recht welche Ideale er sich setzen sollte, also keine der Eigenschaften die das andere Geschlecht anziehen. Sie hingegen war der schönste Mensch den er je gesehen hatte, ja überhaupt das Schönste was er je gesehen hatte, sie war intelligent, konnte einen Gedanken nehmen, ihn sezieren und von allen Seiten betrachten und doch sein Mysterium bewahrt lassen, sie spielte Klavier so voller Leidenschaft als würde sie ihre Seele durch ihre Finger hindurch in die Tasten leiten. Ihre Bilder waren stets perfekt. Perfekte Kopien ihrer Gedanken und hatten doch eine natürliche Fehlerhaftigkeit, die den Zeichnungen einen Hauch ihrer Persönlichkeit vermittelten. Ihr beim Tanzen zuzusehen war als würde man dem Quell der Weiblichkeit beim fließen zuschauen. Ihre Augen glänzten dann noch mehr als sonst…. Sie war unbeschreiblich. Frauen beneideten sie und Männer liefen ihr hinterher oder trauten sich vor lauter Verzauberung erst gar nicht ihr in die Augen zu sehen. Und so genoss er es umso mehr ihr engster Vertrauter zu sein.
Die Jahre vergingen und er sah sich gezwungen ihr seine Liebe zu gestehen und stellte sich dieses Szenario wieder und wieder vor; Auf einem Hügel bei Sonnenuntergang, in tiefster Nacht bei einem Mondschein-Picknick, ein- und aneinandergekuschelt auf dem Weihnachtsmarkt oder bei einem fröhlich verspielten Sommerspaziergang. Diese Möglichkeiten waren nicht sehr abwegig, denn die beiden sahen sich so oft, dass man meinen könnte die beiden wären ein Paar.
Aber als sie ihm anbot bei ihr zu übernachten wusste er, dass dies der richtige Abend und ihr Zuhause der richtige Ort sein würde.
Nachdem sie zusammen gekocht hatten, setzten sie sich nach draußen auf die Terrasse, die der Junge zuvor mit Kissen ausgelegt hatte, und sie hatte eine Flasche Wein geöffnet. Er begann sie zu massieren und fragte sich, ob es nur für ihre Muskeln oder auch für ihr Herz wohltuend war. Sie saßen da draußen, beobachteten die Sterne, er streichelte ihre Arme und wünschte sich, dass dieser Moment nie vorbeigehen würde. Er wollte sich ewig im Glauben lassen können, sie würde diesen Moment genauso genießen wie er. Doch wie alle schönen Momente ging auch dieser vorbei und sie gingen hinein um sich schlafen zu legen, was ihn sofort daran erinnerte, dass er ihr doch heute seine Liebe gestehen wollte. Er sah sich unter Zeitdruck und wurde noch nervöser als er es ohnehin schon war. Als sie ihm das Sofa bezog fasste er sie an der Schulter, versuchte ihr in die Augen zu sehen und sagte, dass er heute gerne bei ihr im Bett schlafen würde. Obwohl er wusste, dass sie nur „ja“ sagte weil sie nicht „nein“ sagen konnte legte er sich einfach in ihr Bett und wartete auf sie. Als sie endlich kam legte er seinen Arm um sie und murmelte leise: „Ich muss dir noch etwas sagen.“.
„Was denn?“, fragte sie schon etwas schläfrig.
„Am besten fange ich ganz vorne an.“
Und er erzählte von dem Moment in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte und von der Entwicklung die seine Gefühle zu ihr genommen hatten, erzählte ihr wie unbeschreiblich schön er sie fand, wie sehr er sie bewunderte...
Er hörte auf mit dem Satz:
„Ich will dir nicht sagen, dass ich dich liebe, weil das zu fordernd klingen könnte. Lieber will ich dich etwas fragen: Darf ich dich küssen?““
Doch sie antwortete nicht. Sie war längst eingeschlafen.


Anmerkung von Ricardo:

1.Ich wäre sehr dankbar, wenn ihr mich (vllt ganz unauffällig per Nachricht) auf Rechtschreib- und Grammatik-Fehler hinweisen würdet.

2. Egal...

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Kommentare zu diesem Text

enomis (45)
(18.09.05)
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 Ricardo meinte dazu am 18.09.05:
Wow, danke! Hätte nicht gedacht, dass sich jemand die Mühe macht alles zu lesen ;) Und wenn ich ehrlich bin wundert es mich auch, dass er so gut gefällt. Aber es freut mich sehr! Danke!
lg, Richy
Lil-Angel (32)
(13.10.05)
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