KLICKS UND CLIQUEN

Synthesen + Analysen in der Matrix


Eine Kolumne von  Bergmann

Freitag, 18. Januar 2013, 18:41
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Verschachtelter LuJa. Lyrik (39)

328. Kolumne


[Eine alte Schachtel]
[Eine alte Schachtel]
[Eine alte Schachtel]
[Eine alte Schachtel]
[Eine alte Schachtel]
[Eine alte Schachtel]
[Eine alte Schachtel]
[eine r·te Pappnase]


Mich erinnert das an die Matroschka. Eine sehr vereinfachte grafische Schachtelung oder Schachtel-Grafik habe ich auf meiner Portalseite. Da habe ich gleichsam das Nichts ineinander geschachtelt, während Ludwig Janssen die Schachtel selbst schachtelt (strenger: das Wort „Schachtel“). Er schachtelt den Begriff in sich selbst, das ist als eine Art Philosophie der Ironie auffassbar, vielleicht aber auch nur Witz (im Sinne Lessings), zumal die Schachtel alt ist - aber es ist nicht nichts, und es wird auch nie nichts, selbst wenn man unendlich oft schachtelte. Eine grenzwertige Schachtelung also - zumal noch zu bedenken wäre, dass „alte Schachtel“ noch anders verstanden werden könnte, aber das wäre eine mindere Deutung dieser ‚konkreten’ (oder visuellen?) ‚Poesie’.

Meine Augen erkennen nun noch als letzte Schachtelung: „eine alte Pappnase“.
Ich frage mich, ob dieses Surplus an Witz zur ästhetizistischen Erhöhung des konkreten Poems führt oder zu seiner Erniedrigung. Ich sehe hier ein Sowohl als Auch, kein Entweder Oder, ein Einerseits Andererseits, kein Zwar Aber ... Die Pappnase ist das Fundament einer anthropologischen Deutung. Es ist etwas drin in der Schachtel, vielleicht schon lange. Es ist ja eine alte Schachtel. Aber die Pappnase kann auch neu sein und trotzdem in einer alten Schachtel liegen. Darauf kommt es nicht an. Die Pappnase als partielle Maske ist maskiert in einer Schachtelung von Schachteln: Der wahre Wesenskern eines Menschen ist nur schwer zu erkennen, das will uns das Gedicht sagen. Vielleicht auch: Es gibt gar keinen Kern, keinen Charakter, sondern alles ist nur Maske.
Es könnte dann auch was ganz anderes in der Schachtel liegen. Die Pappnase ist austauschbar. Darauf deutet auch hin, dass der unbestimmte Artikel klein geschrieben wird („ein“) im Unterschied zum unbestimmten Artikel der alten Schachtel („Ein“). Die Struktur des Gedichts ist das Eigentliche. So gesehen ist es ein Gedicht über das Wesen des Gedichts an und für sich.

Nun ist aber der Inhalt der Schachtelschachteln ganz klein geschrieben. Was will (oder kann) uns das sagen? Was wollen wir sehen und sagen, wenn nicht etwas Philosophisches: Die Pappnase ist die atomistische Figur, ja das Bild einer neuen Quantenphysik, die auch als Fundament einer neuen Moralphilosophie taugen kann. Dann ist dieses Gedicht nichts anderes als die in Bild und Wort gefasste konkrete Form des kategorischen Imperativs.
Es spricht allemal für das Gedicht, dass es so viele Interpretationsansätze ermöglicht, ja eigentlich evoziert!
Ich empfehle dem Verfasser, einen Zyklus ähnlicher Gedichte zu entwerfen, in dem der Horizont für ein neues Universum des Geistes aufleuchtet.

Und jetzt sehe ich und lese ich (fast hätte ich es übersehen): Die Pappnase ist rot!
Das zündet neue Deutungs-Raketen an. Zu vermuten, die Röte der Pappnase deutete auf Liebe hin oder Lüge - was oft dasselbe ist -, wäre nicht hinreichend, um die Tiefe der Bildgebung auszuloten. Den anderen die Nase zeigen, und zwar die verlogene oder verliebte, das ist es nicht. Es muss tiefer gebohrt werden. Letztlich ist dieses Gedicht ein politisches, das nicht nur ein in Farbe gefasstes Fanal darstellt - Empört euch! -, sondern es will mehr: Es kleidet sich selbst ein in eine neue Poetologie des Gedichts. Nur ein politisches Gedicht ist ein wahres Gedicht. Alle Poesie ist letztlich nichts anderes als Politik. Alle Politik muss Poesie sein. Das ist die Parole und der tiefere Sinn dieses Gedichts.
Mir imponiert die Zartheit, mit der die politische, d. h. die zutiefst humanistische Intention intoniert wird. Das gewählte Metrum ist der Demo-Trochäus, den wir aus vielen Gedichten der vorturbokapitalistischen Ära kennen. Man skandiere nur einmal laut vor sich hin: Die alte Schachtel - die alte Schachtel - usw. Gut, man wird vielleicht einwenden, dass das Pathos der revolutionären Parole immer leiser wird. Nun ja, im Erkenntnisschmerz verstummt jeder, wenn er im Prozess der Bewusstmachung unserer Weltprobleme schließlich auf die Pappnase stößt.
Andererseits: Wer sagt uns, dass wir dieses Gedicht von oben nach unten zu lesen hätten!? Aha, es geht auch von unten nach oben. Und wir erkennen: Diese Poetologie des neuen Gedichts ist dialektisch konzipiert! Aus dem Wenn-Dann wird ein Dann-Aber, daraus ein Aber-Nun, aus dem Aber-Nun ein Nun-Aber und so fort ad libitum.

Mir ist bewusst, dass ich nur einen Anfang machte, um dieses grundlegende Gedicht zu interpretieren. Viele werden mir hoffentlich folgen in der Ausdeutung der neuen Poesie, und das meint: Die Erschaffung einer neuen Welt. Nichts Geringeres als das steckt hinter dem Titel „Das Geheimnis der alten Schachtel“. Denn wir wissen nicht, was konkret dabei herauskommen wird, wenn wir Ludwig Janssens neue Poetologie in die politische Tat umsetzen. Und das ist auch gut so. Der Vater der neuen Poesie will uns nicht den Zauber der Tat nehmen, die Magie der Welt. Er macht sie uns nur bewusst, und das ist die Großtat, jawohl: Großtat.

 

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 loslosch (23.11.12)
ich vermisste mich.

 loslosch (24.11.12)
du schriebst "Die alte Schachtel - die alte Schachtel - usw." und zitiertest leider ungenau. "Eine alte Schachtel ..." ergäbe den trochäus, den du auch zutreffend ansprachst. das läuferchen konnte ich mir immer schon gut merken, eingedenk max und moritz.

 Bergmann (24.11.12)
Danke, Lo. Ich hab's korrigiert. Ich vermisse dich nicht.
;-)
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