Die Vergessenen

Kurzgeschichte zum Thema Nachdenkliches

von  Agnetia


 

Manchmal nehme ich das uralte, abgestoßene Fotoalbum aus dem SOft und gerne blicke ich auf meine Kindheit zurück. Meine Lieblingsoma, mütterlicherseits, bei der ich meine Kindergartenzeit auf dem Hof verbrachte, war eine richtig muckelige, mollige Oma. So, wie man sie sich wünscht. Viele Geschichten hatte sie zu erzählen. Und obwohl sie meistens von Krieg, Leid und Verlust handelten, hörte ich ihr doch gerne zu. Manchmal sprach sie von ihrem Vater, dem Schmied, der im Dorf eine Respektsperson gewesen war und seinen männlichen Nachkommen seine wuchtige, große Statur vererbt hatte. Ihre Mutter hatte meine Oma kaum gekannt. Die zarte Frau war bei der Geburt des Dreizehnten (dem Kind nach meiner Oma) gestorben.

Meine Großeltern väterlicherseits sprachen nie von ihren Eltern. Als der Krieg drohte, war die Familie von den polnischen Gebieten nach Deutschland geflohen. Hatte Hof und Heimat zurück gelassen. Die Oma starb jung, ich habe sie nicht kennengelernt. Auch mein Vater kannte seine Großeltern nicht. Sein Vater war der einzige Verwandte dieser Familie. Und er schwieg. So wie viele seines Alters. Es war eine verlorene Generation - entwurzelte, junge Menschen. Vielleicht mit der Schmach des Weltkriegs behaftet. Vielleicht von schmerzlichen Erinnerungen und Heimweh gepeinigt.

Ich selbst kann meinem Enkel viel erzählen. Von seinen Urgroßeltern, meinen wundervollen Eltern. Von seiner Ururgroßmutter, meiner muckeligen Lieblingsoma. Sie alle sind in meinem Herzen. Leben weiter in unzähligen Bildern in meinem Kopf. Leben weiter, weil ich von ihnen erzählen kann.  Sie alle legen meiner Tochter und meinem Enkel ein Fundament zu wissen, woher sie kommen, wer sie sind.

Aber ich hatte eben das Glück, in Friedenszeiten aufzuwachsen.

Krieg jedoch zerstört das Fundament. Und darum fehlt mir selbst ein Stück väterlicherseits. Manchmal nehme ich das uralte, abgestoßene Fotoalbum aus dem Schrank. Betaste es und fühle nach, wie es wohl auf der Flucht gehütet worden war. Als Schatz, als Einziges, was verblieben war. Die Bilder mit gezacktem Rand zeigen meist Frauen mit hohen Wangenknochen und abgearbeiteten Händen vor einem bescheidenen Bauernhaus. Die Kinder ohne Spielzeug schauen ernst wie Erwachsene. Niemand weiß, wer sie sind.

Ein großes Portrait mit dem Datum 1901 klebt ganz allein auf einer Seite. Es zeigt eine auffällig hübsche junge Frau mit hoch geschlossener Rüschenbluse und Brosche. Stolz, beinahe trotzig blickt sie in die Kamera. Sie mag vielleicht zwanzig bis dreißig Jahre alt sein und sieht meiner Tochter sehr ähnlich. Wer sie war, wird das Geheimnis des Fotoalbums bleiben. Eine Vergessene, die keine Geschichte hat.

Männer sind selten auf den Bildern zu sehen. Wenn, dann mit Pferd und Wagen oder bei der Heu-Ernte. Einige Fotos fehlen. Hinterlassen Lücken zwischen alten Klebeecken. Lücken in einer Familie, in meiner Biografie. Vom Krieg gerissen. In Schweigen gehüllt. In ein Schweigen, das einem uralten Fotoalbum entströmt.



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Kommentare zu diesem Text


 Regina (16.05.24, 12:27)
Das ist ein guter Text über den Krieg, der Löcher in die Familiengeschichte gerissen hat. Zwar sind Nachkriegsfolgen oft noch viel gravierender, aber hier hast du einen Aspekt beschrieben.

die Sätze: "Aber ich hatte eben das Glück, in Friedenszeiten aufzuwachsen."
und "Krieg jedoch zerstört das Fundament. Und darum fehlt mir selbst ein Stück väterlicherseits." nehme ich aus diesem Text mit und lege sie allen ans Herz, zu bedenken, bevor sie einen wie auch immer gearteten Krieg befürworten.

 Agnetia meinte dazu am 16.05.24 um 14:52:
so war es gemeint, Regina. Ich hoffe, dass der Text jemanden anspricht, bevor er/sie/es für Krieg plädiert... Danke und lG von Agnete

 Verlo antwortete darauf am 16.05.24 um 17:45:
Mich hat dein Text angesprochen, Agnetia.

Meine Mutter konnte mir nicht einmal sagen, wann ihr Vater geboren wurde. 

Oder mein Vater. 

Als hätte es beide nie gegeben. 

Agnetia, gern mehr, was du erinnerst, wenn du dein Fotoalbum ansiehst.

 harzgebirgler (16.05.24, 17:27)
Fakt ist und bleibt trotz friedenstäublicher flügelschläge:
"Mit Beginn seines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat Wladimir Putin am 24. Februar 2022 die jahrzehntelang währende, europäische Sicherheits- und Friedensordnung zerstört. Nur drei Tage nach Kriegsbeginn hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung den russischen Überfall als „Zeitenwende“ in der Geschichte unseres Kontinents bezeichnet und infolgedessen eine sicherheits- und verteidigungspolitische Kehrtwende angekündigt."
https://dgap.org/de/forschung/expertise/dossier-russlands-krieg-gegen-die-ukraine

LG vom Harzer

 Verlo schrieb daraufhin am 16.05.24 um 17:39:
Harzer, warum machst du dich zum Regierungssprecher?

Wenn du konsequent bist, mußt du einen deutschen Krieg gegen Rußland unterstützen.
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