Das ‚zu spät’ bei dem ‚zu früh’

Kurzgeschichte

von  Ravna

Die junge Frau hatte ganz traurige Haare. Einst hatten sie geleuchtet, gleich einer blank geputzten Karotte. Aber alle Strähnen waren unsagbar betrübt geworden, dass man den Eindruck bekam, ihr Haar sei grau. Ich erinnerte mich an das strahlende Rot, wie ich mich auch entsann, dass ihr Gesicht nicht immer so stumpf gewirkt hatte, sondern vielmehr als sei es aus fein geschliffenem Porzellan.
Wie sie dann da saß, den Rücken gekrümmt, die Hände schlaff im Schoß gefaltet – noch immer die perfekte Schönheit, jedoch in der bitteren Variante: als Abziehbild.
Einen Kuss auf die Stirn gab ich ihr noch, bevor ich ging.

Während ich die Straße überquerte, kein Blick links, keiner rechts, denn es war ja ohnehin egal, dachte ich über das Leben nach. Ich fand es ungerecht, ich sah mich als Opfer jeder Situation, gab die Schuld allen anderen oder Gott. Ich wollte nur schnell Brot kaufen und frische Milch, bei Hinschens in der Borchertstraße. Weil keine mehr da war. Eigentlich braucht man sowieso keine frische Milch und schon gar kein Brot, wenn alles trübselig ist. Man braucht eher einen Strick. Aber ich wollte schnell Brot kaufen. Brot und frische Milch. Denn man muss ja, kann gar nicht anders als: weiterleben.

Angekommen. Was ist das überhaupt für ein Wort? A n k o m m e n. Es klingt schrecklich, je öfter man es sagt. Aber das ist ja bei allen Wörtern so. Auch bei den Worten. Ja, sogar bei den Dichtern ist es so: ‚nicht zu oft’ ist eine leicht zu überschreitende Grenze. Was dachte ich nur solchen Unfug. Darf man solche Gedanken haben in diesen Zeiten? Ich bin ja angekommen. Ich kaufte, was man eben so braucht, denkt zu brauchen. Egal, wie melaninfarben die Tage sind. Ich zahlte, ich ging, ich kehrte um: etwas hatte ich noch vergessen. Ich wusste nur noch nicht, was es war.

Türglockengeläut. „Kleine Engelschöre.“, lachte die Frau hinter der Theke. Ich nickte ihr freundlich zu. Ich suchte die Regale ab, nach dem, was ich vergessen hatte. „Suchen sie etwas Bestimmtes?“ Ich nickte, schloss die Augen kurz und da wusste ich es: „Ja. Einen Würfel. So einen roten aus Holz. Mit goldenen Punkten.“ Sie wies auf ein Bonbonglas neben der Kasse, übervoll von Würfeln war es. Sie alle waren gleich. Ich suchte mir den Schönsten aus. Zwanzig Cent kostete er. Aus meiner Tasche kramte ich die Münze, legte an ihrer Statt das sechseitige Spielzeug hinein. Beim Gehen dachte ich an kleine Engel.

So eine Straße, auch wenn die Häuser nur einstellige Ziffern tragen, kann sehr lang sein. Ich nahm sie mit einem Schritt. Irgendwo, da war ich mir sicher, irgendwo gab es das taugrüne Glück. Noch hatte ich es nicht, vielleicht hatte ich es einmal gehabt, aber: ich würde es finden. Ob erneut oder zum ersten Mal. Da nahm ich die Straße mit nur einem Schritt. Auch wenn sie sonst sehr lang ist und gewöhnlich die neun Häuser lügen. Junges Gras lässt keine Gedanken zu an die längst verwaschenen Flecken. Mit zitternder Hand öffnete ich die Wohnungstür. Es roch nicht gerade taugrün.

Ich betrat den dunklen Flur. Seit drei Monaten war die Glühbirne durchgebrannt, seit drei Monaten hatten weder sie noch ich eine neue eingesetzt. Überhaupt sahen wir keine Notwendigkeit für Licht mehr. Nur gelegentlich, wenn die Nacht sich in die Zimmer wälzte und wir uns trotzdem noch bewegen wollten, drückten wir auf einen der Schalter. Die Helligkeit war eine Illusion, derer wir uns immer bewusst waren. Die Frau mit dem Kupferblechmantel um den Kopf, meine Frau, betonte es auch immer wieder: „Das alles ist nur ein Traum. Wenn wir aufwachen, vielleicht lachen wir dann.“ Über mein Gesicht rann unbemerkt eine Träne.

Unter der Wohnzimmertür zwängte sich ein Klagelaut hindurch. Ich ging in die Küche und machte mir einen Tee, Pfefferminze. Während das Wasser zu kochen begann, ließ ich allmählich Waldhonig in einen Becher tropfen. Der Papierschnipsel des Teebeutels rutschte beim Aufgießen hinein. Zum Fluchen darüber fand ich keine Kraft. Mit dem dampfenden Getränk stellte ich mich ans Fenster. Die Scheibe beschlug, aber zu sehen gab es ohnehin nicht viel. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es aussähe, wenn Sommer wäre. Neben der schweigenden Küchenuhr hing ein Kalender. ‚Juni’ stand da. Kein Wort glaubte ich ihm, denn die Zeit ist etwas schrecklich Verlogenes.

Eine rotblonde Stimme rief mich. Sie klang etwas ausgehöhlt. Der gewohnte Unterton fehlte. Trotzdem stand ich auf, bewegte mich der Besitzerin dieser Stimme entgegen. Meine Frau hatte sich verändert. Alles hatte sich verändert. Ich stand irgendwo zwischen der Leere und der Ehe, zwischen Verständnislosigkeit und Mitgefühl. Wir hatten uns also nicht voneinander entfernt. In das Gesicht sah ich ihr wohl kaum, als ich sagte: „Ich habe Brot gekauft. Und Milch. Bei Hinschens in der Borchertstraße. Die haben Türglocken wie kleine Engelschöre. Einen Würfel habe ich auch gekauft. Einen roten. Mit goldenen Punkten. Sie haben ganz viele davon, in einem Bonbonglas.“

An der einen Wand in unserem Wohnzimmer stand ein Regal, zum Bersten gefüllt mit Gesellschaftsspielen. Einige hatten wir noch nie gespielt. Aber eines, in einem großen Karton mit schönen Illustrationen, das war ganz abgegriffen. Ich nahm es heraus, öffnete die Schachtel. Ein wehmütiger Geruch drang heraus, die Bilder von vielen Abenden mit Freunden tauchten den Raum in Rotweinlicht. Mit dem Spiel setzte ich mich neben meine Frau, die sich eben auf dem Boden ausgestreckt hatte. „Was meinst du, wollen wir eine Runde?“, fragte ich sie. „Nein“, erwiderte sie stimmlos, „ich fürchte, ich kann nicht mehr spielen.“ „Na dann.“, sagte ich.

„Von neun bis neunundneunzig. Das ist doch hirnrissig.“ murmelte sie. Ihre Finger schaukelten gedankenverloren einen kleinen Spielstein in den Schlaf.
„Ist doch nur eine Empfehlung.“ meinte ich, „man darf das nicht so genau nehmen. Gibt wirklich nicht viele Menschen, die älter werden.“
Sie kullerte das Figürchen über das Brett, immer wieder, hin – zurück – hin – zurück – hin. Als ginge es in diesem Spiel darum.
Mit einer hilflosen Geste strich sie ihr Haar zurück, wisperte: „Er hat dieses Spiel immer geliebt. Ich hatte ihm versprochen, dass wir es spielen, wenn er alt genug ist. Ein Monat wäre es noch gewesen. Einer nur.“


Anmerkung von Ravna:

Jeder Absatz ist ein Drabble und darf auch gern als solches gelesen werden.

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Kommentare zu diesem Text


 Vaga (07.02.07)
Bin sehr beeindruckt! LG - Vaga.

 Ravna meinte dazu am 07.02.07:
das freut mich :)

 ViolaKunterbunt (11.03.07)
Das ist ja irre gut.
Zum einen mag ich Drabble, zum anderen mag ich Deine Schreibe, also das zusammen ist einfach genial.
Diese Überschrift - da sitz ich ja schon mal davor und es berührt mich ....
Diese lange Straße, die mit einem Schritt genommen wird. - tolles Bild.
Und der Hammer ist das letzte Kapitel. Es wird so erschreckend deutlich, was hier mit dem zu spät bei dem zu früh gemeint ist.
Liebe Grüße, Viola
(Kommentar korrigiert am 11.03.2007)
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