Limbus

Gedicht zum Thema Abgrund

von  Isaban

Tant Trese sitzt lauschend im dämmernden Zimmer.
Bald kommen die Stimmen, sie weiß es genau.
Erst hört sie ein Rauschen, dann leises Gewimmer,
Es dringt aus der Wand. Ja, dort weint eine Frau.

Ganz fest beißt Tant Trese die Zähne zusammen.
Sie kennt diese Stimme, die Frau und den Grund;
Es sind all die Bilder. Bis eben noch schwammen
sie hinten im Mund. Tante Trese spuckt aus und

der Rotzfleck ist rund. Da dringt aus der Heizung
ein Wortschwall, ein böser, ein jedes Wort schreit,
dann platzt jene Wand auf. Ein rasender Sprung
schnellt herauf bis zur Decke, erst schmaler, dann breit

und aus diesem Riss quellen Knöchlein und Schleim,
ein Babygesicht gießt sich auf die Tapete,
greint: Mama,  komm zu mir, wir gehen jetzt heim.

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Kommentare zu diesem Text

David_Sternmann (34)
(04.09.16)
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 Isaban meinte dazu am 04.09.16:
Bestimmt.
David_Sternmann (34) antwortete darauf am 04.09.16:
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 Isaban schrieb daraufhin am 04.09.16:
So ist das mit den Rosengärten. Die werden, ganz gleich, was die Leute sagen, eher selten verschenkt.

 Dieter Wal (04.09.16)
Liest sich traumatisch. Meine damit nicht Pokémon Traumato. Die nähere Beschreibung könnte auch als Vorlage für einen Horrorfilm dienen. Interessanter Titel.

Sollte Tant Trese bekannt sein?

 Isaban äußerte darauf am 04.09.16:
Nein, wohl eher nicht. Nur ein Sinnbild für einsame alte Frauen, die man zu kennen glaubt und die ihr ganz eigenes Geheimnis mit sich tragen, bis es sie auffrisst.

 Dieter Wal ergänzte dazu am 04.09.16:
Geheimnisse fressen ihre Träger grundsätzlich auf.

Woher kanntest du den Begriff Limbus?
David_Sternmann (34) meinte dazu am 04.09.16:
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 Isaban meinte dazu am 04.09.16:
@ Dieter: Limbus = Vorhölle, der Ort, an dem die armen Seelen derer landen, die ohne Schuld vom Himmel ausgeschlossen sind, z.B. ungetaufte Kinder, denen höchstens die Erbschuld angelastet werden kann, weil sie nie zur geistigen Reife/zum Vernunftgebrauch kamen.
@ David: Ja, vielleicht, wenn vermutlich auch nur temporär, kommt wohl drauf an, um wen da gebuhlt wird. Wenn’s der eigene Ehemann ist, dann sind selbst Siege nie ganz schmerzfrei. Aber zumindest kleine Siege über Konkurrenten sind ungemein belebend, auch wenn es nicht so deutlich nach außen getragen werden sollte.

Herzlichen Dank für eure Rückmeldungen, ihr beiden. Es freut mich sehr, dass euch der Text gefällt.

Liebe Grüße

Sabine
David_Sternmann (34) meinte dazu am 04.09.16:
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Sätzer (77)
(04.09.16)
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 Isaban meinte dazu am 04.09.16:
Jepp, könnte man so sagen.

LG Sabine

 Irma (07.09.16)
Ich habe in meiner Schul- und Studienzeit in den Ferien unter anderem oft als Altenhelferin gejobbt, Sabine. In Erinnerung ist mir auch eine alte Dame, die irgendwie unter Verfolgungswahn litt. Sie meinte, ständig Gasgeruch in ihrer Wohnung zu riechen, und glaubte, ihre Nachbarn machten die Gasleitung in ihrer Wohnung ganz bewusst undicht, um sie zu vergiften.

Dieser „Tant“ hier scheint es auch an mehr als einem „e“ zu fehlen (vielleicht noch an einem zweiten „e“, sofern sie Terese heißt). Allerdings scheinen die Geister, die sie jagen, keine fremden zu sein, sondern den Ursprung in ihrer eigenen Vergangenheit zu haben. Die Bilder kommen aus der Tiefe ihrer mühsam errichteten Wände immer und immer wieder in ihr Bewusstsein geschwommen und quälen sie.

Das Zähne-zusammen-Beißen, der (Fruchtwasser-)Schwall, das Schreien, das Aufplatzen der (Gebärmutter-)Wand und das unheimliche Aufreißen - all das klingt für mich nach einer furchtbaren (Wieder-)Geburt. Keiner normalen, sondern einer Fehlgeburt. Oder vielmehr einer gezielten Abtreibung: „Knöchlein und Schleim“ werden auf brutale Weise ausgestoßen, ausgespuckt wie Rotze.

Aber Mutter und Kind lassen sich eben nicht so leicht trennen, wie es manchmal scheint. Das „weint“ in V.4 steht vermutlich nicht ohne Grund in enger Verbindung zum „greint“ im Schluss-Vers. Für Mutter und Kind war das ein äußerst schmerzhaftes Erleben, und egal wie sehr sich die Mutter später auch bemühen mochte - sie ist ihr Baby nie wirklich losgeworden. Ihr Kind ruft sie immer wieder zu sich und sie fühlt, dass sie für ihre Schuld büßen müssen wird.

Stilistisch finden sich, wie bei dir gewohnt, Sabine, viele kleine Raffinessen in diesem Gedicht: Der auftaktische Daktylus wird plötzlich mit dem Ausbrechen in V.8 durchbrochen. Die Tant versucht kurzzeitig Gewalt über sich zu bekommen und zur „Tant-e“ zu werden, aber der Versuch misslingt. Die Betonung beim verächtlichen Ausspucken landet letztendlich doch nicht auf dem „aus“, sondern dem angefügten „und“ am Zeilenende. Eine unvollständige Abstoßung eben. Der Scheinreim von „Heizung“ (V.9) und „Sprung“ (V.11) springt ins Auge, und der doppelte Auftakt in V.12 lässt den Sprung besonders breit werden.

Hinter „Mama“ im letzten Vers stehen meiner Meinung nach zwei Leerzeichen. Wolltest du damit eine besondere Ferne zur Mutter zeigen? Auch hinter „Mund“ in V.8 ist ein Leerzeichen vor dem Punkt. Falls du den Satzpunkt separat setzen wolltest, um den „runden Rotzfleck“ zu verbildlichen, dann würde ich das in V.9 nach „rund“ für sinnvoller erachten.

Die um einen Vers verkürze vierte Strophe mit der Reim-„Waise“ in V.14 macht deutlich, dass die Mutter nach der (vielleicht sogar unfreiwilligen) Abtreibung doch ständig etwas vermisst hat und ihr das Fehlen ihres Kindes immer im Bewusstsein blieb.

Alles in allem ein „unheimlich berührendes“ Gedicht, das in die Abgründe der menschlichen Seele führt. Auch für Nichtgläubige zeigt sich hier das Gewissen als (Vor-)Hölle, als ein Ort der (selbsteigenen) Seelenqual - noch im eigentlichen Leben.

LG Irma
(Kommentar korrigiert am 07.09.2016)
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