Taste

Gedicht zum Thema Abendstimmung

von  Isaban

Wie trügerisch doch diese Tastfinger sind,
aus deren Spitzen uns nächtens die Flaumflügel wachsen.
Wir flattern und hasten und ziehen uns an
und ziehen uns aus, erahnen und streifen,
erfühlen, versteifen, begreifen und dann
erinnern wir uns, was man noch oder nicht
machen sollte und kann. Die Bremsen ziehen
wir hinter uns her,

verpixeln am Abend, sind tagsüber


leer.

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Kommentare zu diesem Text


 Irma (05.01.17)
Beim ersten Lesen musste ich aufgrund der Schreibweise in der 1. Person Plural an einen zarten Internetflirt denken, an ein vorsichtiges gegenseitiges Antasten, sich angezogen Fühlen und Ausziehen (im Sinne von ‚sich nackig machen‘, Intimes von sich preisgeben), gefolgt von einem Zurückschrecken sowie der Ernüchterung, dass eine solche Beziehung keine Zukunftsaussicht haben kann oder darf. (Das „man“ und das konjunktivische „sollte“ in Z.6 + Z.7 deuten ja irgendwie auf Moral und Anstand hin, auf selbstauferlegte ‚Rechtbleibregeln‘, die den weiteren Schrift-Verkehr eindämmen.) Dem Flatterhaften werden später die Flügel gestutzt. Bevor es zu weit geht, wird die Notbremse (bis in den nächsten Vers) gezogen. Da bremst sich anscheinend jemand selbst aus bei der Verwirklichung des Ersehnten, weil er es sich nicht eingestehen will. Vielleicht ist ja eine verklemmte Taste der Grund für das „Verpixeln“ (‚unscharf werden‘) am Abend?

Wenn man die Bildschirm-Ebene verlässt und auf eine andere Bildebene wechselt, lassen sich die nächtlich aufkeimenden Fantasien und Wunschvorstellungen, das zarte Sprießen von Begehrlichkeiten, die weit über die Zeile hinauswachsen und am nächsten Abend wieder verblühen, jedoch auch auf ein Liebesspiel alleine ohne ein ‚Du‘ interpretieren. „Taste“ im Titel kann man ja zum einen als Subjekt lesen, zum anderen aber auch als Imperativ oder als die um das „ich“ verkürzte 1. Person Singular-Form des Verbs „tasten“: Ein lustvolles Selbstabtasten des eigenen Körpers, das nur für den Moment erfüllend ist, im Nachhinein aber eher schal schmeckt. Die Befriedigung mit den eigenen Tastfingern ist „trügerisch“ und weicht am Schluss der Erkenntnis, dass sie letztendlich ins Leere (Leerzeilen) laufen muss. Das verallgemeinernde „wir“ im Text spricht meiner Ansicht nach nicht gegen eine solche Lesart. Auch wenn wir bei der Selbstbefriedigung alleine sind, sind wir damit ja im Allgemeinen nicht alleine.

Rhythmisch interessant sind die jambischen Einbrüche ins daktylische Versmaß in Z.2 („aus deren Spitzen“) und in Z.7, wo die Entbehrung und das Schleifen der Bremsen durch den Auftaktwegfall und das Innehalten bzw. sich Einhaltgebieten durch den Satzpunkt und die damit verbundene lange Pause deutlich werden.

Anregend! LG Irma
(Kommentar korrigiert am 05.01.2017)

 Isaban meinte dazu am 06.01.17:
Ach Irmchen, du bist mir eine Freude!

Es ist schon fast beäbgstigend, wie gründlich du meinen Stilmitteln auf die Schliche kommst und wie hervorragend du interpretierst.
3 *** für deine tolle Rückmeldung. Herzlichen Dank!

Liebe Grüße
Sabine
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