Der Paradiesvogel.

Kurzgeschichte zum Thema Wahnsinn

von  Orion

Die Türglocke: „Schell…“
Vorsichtig wird die Tür soweit geöffnet, wie es die angebrachte Sicherheitskette erlaubt.
„Ja bitte?“ Eine unsicher klingende Frauenstimme ist vernehmbar.
„Guten Tag. Mein Name ist Grützner, Frank-Walter Grützner. Ich betreibe Forschungen im Auftrage des Frank-Walter-Grützner-Forschungsinstitutes und möchte Sie fragen, ob Sie eventuell einige Minuten Ihrer wertvollen Zeit für mein Institut erübrigen könnten?“
„Grundsätzlich kaufe ich nichts an der Haustür, Herr Grützner. Ich …“
„Äh, nein, Frau  … äh“
„Müller-Hahnewald. Waltraud Müller-Hahnewald.“
„Danke, Frau Müller-Hahnewald. Um es gleich vorneweg zu sagen: Ich verkaufe nichts. In keinster Weise! Ich stehe ausschließlich im Dienst der Wissenschaft und habe Sie aufgesucht, um Sie um Ihre Mitarbeit bei unserer Forschungsarbeit zu bitten. Es entstehen Ihnen keine Kosten, Sie bestellen nichts, erhalten nichts. Das kann ich Ihnen versichern.“
„Was erforschen Sie denn?“
„So allerhand, quasi dies und das, Frau Müller-Hahnewald.“
„Und ich soll da mitarbeiten? Jetzt bin ich ehrlich so ein bisschen … “
„Ich kann Sie voll und ganz verstehen, liebe Frau Müller-Hahnewald. Da kann ja schließlich jeder kommen und sagen, er beforsche irgendetwas und verschafft sich so Zugang zu den Wohnungen alleinstehender Frauen um die 40, nicht wahr?“
„Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Herr Grützner. Das ist doch jetzt genau unsere Situation, oder irre ich mich?“
„Haha, ja, wie zutreffend, Sie haben Recht. Aber, liebe Frau Müller-Hahnewald: Ich komme doch im Auftrag eines Institutes!  Des Frank-Walter-Grützner-Forschungsinstitutes! Quasi mit wissenschaftlichen Weihen! Darf ich jetzt eintreten?“
„Natürlich. Bitte, kommen Sie herein.“
Die Sicherheitskette wird zurückgeschoben, Herr Grützner betritt die Wohnung, einen großen Koffer schleppend.
„Nehmen Sie hier auf der Eckbank Platz, Herr Grützner. Einen Kaffee? Zufällig habe ich frischen Kaffee gekocht. Echten Mokka!“
„Na, da sage ich nicht Nein, Frau Müller-Hahnewald. Gemütlich haben Sie es hier.“
„Danke schön. Milch, Zucker?“
„Zweimal nein!“
„Also schwarz?“
„Ja.“ 
Der Kaffee wird eingeschenkt, während des Trinkens entsteht eine Verlegenheitspause. Dann:
„Also, Herr Grützner, erzählen Sie mir doch von Ihrer Forschungsarbeit. Was kann ich dabei tun?“
„Liebe Frau Müller-Hahnewald, wir forschen auf dem großen Gebiet der Verhaltensforschung. Sie wissen doch: Unterschwellige Botschaften verstehen lernen, entschlüsseln usw. Eine Frage: Sie haben nicht Psychologie oder Medizin studiert?“
„Ich? Oh, leider nicht. Dafür hatte ich nicht den Grips, wie man so sagt. Ich arbeite im Büro bei Johannson & Dinkler. Als Buchhalterin.“
„Das ist ein sehr oft verkannter Beruf, Frau Müller-Hahnewald. Vielen Menschen erscheint er langweilig, immer nur Zahlen, immer das gleiche jeden Tag. Was denken Sie?“
„Genau das denke ich auch. Aber irgendwie muss man ja seine Brötchen verdienen. Jetzt noch einmal zu dem Forschungsprojekt. Was genau ..?“
„Recht haben Sie, Frau Müller-Hahnewald. Warum bin ich denn nun eigentlich hier? Ich sagte es bereits: Um Sie um Ihre Mitarbeit an unserem neuesten Forschungsprojekt zu bitten.“
„Und welche Art von Mitarbeit ist das? Muss ich Fragen beantworten? Tests bestehen?“
„Gleich vorweg gefragt, Frau Müller-Hahnewald: Sind Sie ein aufgeschlossener oder eher prüder Mensch?“
„Wie meinen Sie das? Prüde im Sinne von … sexuellen Sachen? Wieso fragen Sie so etwas? Das geht Sie doch garnichts an!“
„Mich persönlich geht das auch wirklich nichts an, Frau Müller-Hahnewald, das können Sie mir glauben. Aber ich bin ja im höheren Auftrag hier. Das Forschungsprojekt muss mit Leben gefüllt werden, damit Ergebnisse  erzielt werden, die uns allen zugutekommen. Ihnen und mir, den Nachbarn, der Familie, dem Land, der Menschheit, um es einmal so zu sagen.“
„Ach so. Naja, als prüde würde ich mich nicht bezeichnen. Vor einigen Jahren war ich sogar mal in einer gemischten Sauna. Sie wissen, Männer und Frauen zusammen, gänzlich nackt und erhitzt. Das hat mir nichts ausgemacht. Es diente ja auch in erster Linie der Gesundheit.“
„Schon jetzt bin ich der Meinung, Frau Müller-Hahnewald, dass Sie genau die Person sind, die für meine –sprich unsere- Forschungen hervorragend geeignet ist. Sie gehen aufgeschlossen durch die Welt, scheuen sich nicht vor Gemeinschaftssaunen und sind bereit, Ihr Wissen und Können in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Schlagen Sie ein, Frau Müller-Hahnewald, werden Sie für die nächsten Stunden meine wissenschaftliche Gehilfin!“
„Das hört sich ja interessant an, Herr Grützner. Dann lassen Sie uns loslegen! Noch einen Mokka?“
„Wenn noch welcher da ist, hahaha, ich meine natürlich: Gern, Frau Müller-Hahnewald. So, jetzt zum wesentlichen Teil unseres gemeinsamen Projektes, wenn ich es einmal so nennen darf. Frau Müller-Hahnewald, es geht darum, zu verifizieren, ob Ergebnisse der Verhaltensforschung aus dem Tierreich auf das menschliche Verhalten übertragbar sind, einmal ganz kurz und zusammengefasst gesagt.“
„Was für ein Verhalten, zum Beispiel?“
„Nun, revierverteidigendes Verhalten, nachwuchsverteidigendes Verhalten, werbendes Verhalten und so in dieser Richtung.“
„Aha.“
„Darf ich –zu Dokumentationszwecken natürlich nur- meine Videokamera aufbauen, Frau Müller-Hahnewald?“
„Natürlich, Herr Grützner.“
„Ich danke Ihnen. Einen kleinen Augenblick noch, dann geht es los.“
Nach kurzer Aufbauzeit:
„So, Frau Müller-Hahnewald, auf geht’s. Zuerst der theoretische Teil. Ich stelle Ihnen Fragen und Sie antworten. Bitte ganz spontan, ohne nachzudenken. Die erste Frage: Sie haben 4 Eier in ein Nest gelegt und erfolgreich ausgebrütet, natürlich ist damit gemeint, Sie haben 4 Babys in ihren Kinderbettchen und ein Löwe oder so kommt und will die Babys fressen. Beschützen Sie sie?“
„Aber natürlich!“
„Sehen Sie, Frau Müller-Hahnewald, wie sich menschliches und tierisches Verhalten gleichen? Die Vogelmutter hätte das auch getan. Zumindest versucht. Wahrscheinlich wenig aussichtsreich. Aber nun die nächste Frage: Sie haben sich als Murmeltier wohnlich in Ihrer Höhle eingerichtet und ein anderes Murmeltier-Weibchen drängt herein und will Ihnen Ihre Höhle abspenstig machen. Lassen Sie das zu?“
„Natürlich nicht. Das ist doch meine Höhle!“
„Schon wieder ein Volltreffer! Ganz im Sinne des Murmeltier-Denkens. Grandios, muss ich da sagen! Nun die letzte Frage vor dem praktischen Teil: Sie sind eine Antilope und wollen am Fluss Ihren Durst stillen. Aber genau an Ihrer bevorzugten Trinkstelle lauert ein riesiges Krokodil. Trinken Sie?“
„Um Gottes willen, ich bleibe möglichst weit weg vom Krokodil.“
„Traumhaft! 99% aller Antilopen machen es genauso! Frau Müller-Hahnewald, Sie sind großartig! Aber jetzt wird’s doch etwas pikant! Sie kennen Paradiesvögel?“
„Sie meinen, aus der Bibel?“
„Äh, nein, aus dem Dschungel oder dem Fernsehen, zum Beispiel.“
„Nicht die Vögel von Adam und Eva?“
„Die meine ich jetzt ehrlich gesagt nicht. Diese herrlich bunten, mit tollen Federn geschmückten Vögel meine ich. Die haben Sie doch bestimmt schon im Fernsehen gesehen. Paradiesvögel. Schon dieser Name!“
„Naja, vielleicht. Was machen die denn?“
„Paradiesvögel haben ein auf der Welt einmaliges Balzritual. Grob gesagt: Das in schillerndste Farben und Federformen gekleidete Männchen vollführt auf einem von ihm selbst ausgesuchten und gestalteten Platz einen unbeschreiblichen Balztanz, wobei es außerdem zusätzlich tirilierende Gesänge ausstößt, die nicht von dieser Welt zu stammen scheinen. Mit einem Wort: wunder-, wunder-, wunderschön. Was nimmt es da Wunder, dass sich gehäuft kopulationsbereite Weibchen auf dem Balzplatz einstellen, fast schon bin ich geneigt zu sagen: eindrängeln. Und natürlich auch bedient werden, selbstverständlich.“
„Und wie lautet jetzt Ihre Frage an mich, Herr Grützner?“
„Was?“
„Wie lautet die nächste Frage an mich?“
„Äh, nein, keine Frage. Entschuldigung. Jetzt geht es in die Praxis. Ich würde gern eine Messung durchführen.“
„Jaaahhh, Herr Grützner? Welcherart ist diese Messung denn?“
„Zuerst mal schwierig, Frau Müller-Hahnewald. Und pikant, wie ich schon einmal erwähnte. Ich benötige Ihr ganzes Vertrauen und Ihre Offenheit.“
„Das hört sich ja recht –äähh,-- geheimnisvoll an. Ich weiß nun gar nicht, ob ich eventuell doch die falsche Person für Ihre Forschungen bin, denn, ehrlich gesagt, ich möchte an mir nichts messen lassen, auch nicht im Namen der Forschung nach Paradiesvögeln, Herr Grützner.“
„Oh, jetzt verstehe ich, Frau Müller-Hahnewald. Da kann ich Sie zum Glück voll und ganz beruhigen. Es ist keine Messung in dem von Ihnen vermuteten Sinne, dass die Länge oder Breite oder das Gewicht von irgendetwas an Ihnen gemessen wird. Um Himmels Willen Nein! Es ist so, dass Sie selbst lediglich als eine Art neutrales Messgerät fungieren. Ich präsentiere Ihnen etwas und Sie teilen mir den Grad der bei Ihnen erzeugten Erregung mit. Auf einer Skala von 1 bis 9. 1 bedeutet dann gar nicht erregt und 9 bedeutet stärkste Erregung. Das schaffen Sie doch leicht.“
„Da bin ich zwar beruhigt, Herr Grützner, allerdings nur zum Teil. Welche Art von Präsentation haben Sie im Sinn? Sie können sich sicher vorstellen, dass ich bestimmte Dinge überhaupt nicht präsentiert bekommen möchte. Ich hoffe, dass ich jetzt nicht ins Detail gehen muss?“
„Liebe Frau Müller-Hahnewald: auch hier: Entwarnung! Und um alle Unsicherheiten zu zerstreuen lege ich  einfach mal los. Zuerst setzen Sie doch bitte diese blickdichte Schweißerbrille auf. Ja, so ist es gut. Können Sie etwas sehen, Frau Müller-Hahnewald?“
„Nein. Absolut nichts.“
„Ich benötige jetzt ein paar Minuten. Dann werde ich Sie bitten, die Brille abzusetzen und mir Ihren Erregungsgrad  -Sie wissen, die Skala von 1 bis 9- innerhalb einer Minute mitzuteilen.“
„Da hätte ich jetzt doch noch eine Frage, Herr Grützner.“
„Ich höre, Frau Müller-Hahnewald.“
„Es geht doch hier nicht um sexuelle Erregung? Ich dachte, wir hätten das geklärt! Für mich wäre diese Angelegenheit nämlich dann jetzt sofort beendet!“
„Frau Müller-Hahnewald, es geht schon um –wie Sie es nennen- sexuelle Erregung. Aber im streng wissenschaftlichen Sinn! Sexuelle Erregung im Forschungsfokus der Verhaltensforschung. Ganz und gar nicht im vulgären sexuellen Sinn, sie verstehen? Lassen Sie uns die Arbeit angehen, seien Sie ganz entspannt, Frau Müller-Hahnewald. Noch eine Minute.“
„Ich bin jetzt doch etwas aufgeregt, Herr Grützner.“
Herr Grützner öffnet den Koffer, entnimmt ihm eine Gänsefeder und steckt sie sich nach Indianerart ins Haar.
„Brille ab, Frau Müller-Hahnewald!“
Sie nimmt die Brille ab und starrt ihn an.
„Nun, was sagen Sie, Frau Müller-Hahnewald?“
„Also, ich bin etwas überrascht, Herr Grützner.“
„Das glaube ich Ihnen gern. Und Ihre Einschätzung? Die Bewertung Ihrer wissenschaftlich sexuellen Erregung?“
„Gar nicht. Überhaupt nicht erregt. Eher beunruhigt. Haben Sie auch eine Null auf der Skala?“
„Nein, Frau Müller-Hahnewald, da muss ich schon eine 1 eintragen. Sie sehen, es ist doch ganz einfach! Aber machen wir weiter! Setzen Sie bitte noch einmal die hübsche Brille auf und warten Sie auf mein Signal.“
Herr Grützner entkleidet sich eilig und zieht eine Art Vogelkostüm an. Lange, bunte Federn ragen an vielen Stellen wie Antennen heraus, die Kopfbedeckung ist mit ebensolchen Federn verziert und besitzt einen Schnabel.
„Brille ab, Frau Müller-Hahnewald!“
„Alles klar, Herr Grützner. Augenblick noch. So, jetzt … (Kreisch) Sind Sie das, Herr Grützner? Das ist ja entsetzlich! Um Himmels Willen, worauf habe ich mich da bloß eingelassen?“
„Sind Sie erregt, Frau Müller-Hahnewald?“
„Was?“
„Spüren Sie die sexuell erregende Wirkung des Paradiesvogel-Effektes?“
Herr Grützner beginnt vogelartig zu hüpfen und stößt Zwitscherlaute aus.
„Sehen und hören Sie doch, Frau Müller-Hahnewald! Wehren Sie sich nicht, seien Sie ganz Vogelweibchen. Tirill, tirill, hüpf, hüpf.“
„Herr Grützner, ich habe Angst! Ziehen Sie sich doch bitte wieder an!“
„Frau Müller-Hahnewald, lassen Sie mich doch noch einen kleinen Augenblick balzen! (Tirill, hüpf). Wahrscheinlich dauert es noch etwas, bis Ihre Kopulationsbereitschaft geweckt wird (Flatter).“
„Herrjeh, Herr Grützner. Jetzt ist’s aber genug. Verlassen Sie sofort meine Wohnung, oder ich rufe die Polizei. Ich meine es ernst!“
„Warten Sie, Frau Müller-Hahnewald. Die Wirkung muss doch schon eingesetzt haben! Tirill! Kommen Sie, lassen Sie uns gemeinsam flattern! (hüpf).“
Herr Grützner ergänzt sein Hüpfen und Flattern um hackende Kopfbewegungen, während Frau Müller-Hahnewald die Polizei anruft.
Kurze Zeit später klingelt es an der Wohnungstür, Frau Müller-Hahnewald öffnet aufatmend, 2 Polizeibeamte treten ein.
„Da, sehen Sie nur, meine Herren. Ich wusste mir keinen Rat mehr und habe Sie angerufen. Er wirkte noch vor kurzer Zeit völlig normal, darum habe ich ihn hereingelassen. Bitte nehmen Sie ihn mit.“
„Sie haben ganz richtig gehandelt, Frau Müller-Hahnewald. Dieser Mann ist ein alter Bekannter von uns. Im Grunde harmlos. Obwohl, seine Macke kann einen schon erschrecken, nicht wahr?“
„Da haben Sie Recht! Ach, irgendwie bin ich sehr erleichtert, dass Sie da sind und gleichzeitig ärgere ich mich über mich selbst. Wie kann ich nur so leichtgläubig sein! Welche Angst ich ausgestanden habe!“
Die Beamten nehmen Herrn Grützner fest, packen seine Sachen zusammen und führen ihn ab. Dabei wendet sich ein Polizeibeamter noch einmal an Frau Müller-Hahnewald.
„Im Grunde ist er doch ein ganz armes Schwein, oder?“
„Naja, ich weiß nicht …“

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