Merat: Nebel

Kurzgeschichte zum Thema Reisen

von  Elisabeth

Dieser Text ist Teil der Serie  Die Tarib

Merat klammerte sich an das Kleid ihrer Amme, als der schwarzhäutige Mann die Hand nach ihr ausstreckte. Trotzdem kam er einen Schritt näher, und ängstlich vergrub sie auch noch ihr Gesicht in dem nach den Kräutern und Gewürzen der Abendmahlzeit riechenden Stoff. Und Tabit strich ihr besänftigend über das feine Haar.

"Prinzessin, dein Vater schickt nach dir, ich soll dich zu ihm bringen", sagte der schwarzhäutige Mann mit seltsam kratzender Stimme, als sei er nicht gewohnt, so zu sprechen. Und dann räusperte er sich auch noch und das klang so ulkig, daß Merat doch einen Blick auf ihn riskierte, natürlich ohne die Sicherheit zu verlassen, die ihr Tabits Kleid und Umarmung gab. Der Mann hatte seine schwarzen Hände wieder an seinen Seiten, aber beugte sich nun lächelnd, doch mit geradezu flehenden Augen zu ihr herunter. "Deine Amme kann uns gerne begleiten, in der Sänfte ist genug Platz für euch beide."

Sänfte, das klang so interessant, daß Merat wagte, nur noch mit dem Handrücken Tabits Kleid zu berühren und sich dem Mann einen halben Schritt zu nähern. Die bunt geschmückten Aufbauten aus dünnen Zweigen und flatternden Stoffen auf den Kamelrücken, die sich bei den Schritten der Tiere mal zu dieser und mal zu jener Seite neigten, fand sie großartig. Ihre Tante hatte ihr erzählt, daß sie als Säugling schon in einer dieser Sänften gereist war, doch eine Erinnerung daran hatte sie nicht. Seit sie laufen konnte, ritt sie auf ihrem Pferd.

Als sie am nächsten Morgen nach Süden aufbrachen, sank Merats Meinung von Sänften jedoch mit jedem Schritt des Kamels, und sie wünschte sich, einfach reiten zu dürfen. Tabit verbot ihr sogar, die Stoffe mit den Händen auseinanderzuziehen um herauszuschauen, und so saß sie in dem winzigen schaukelnden bunten Zelt, mürrisch in Tabits Arme geschmiegt, und langweilte sich. Nur wenn ein Luftzug den Stoff flattern ließ, erhaschte sie gelegentlich einen Blick auf die felsige Karawanenstraße und die Pferde und Kamele einiger Mitreisenden, unter denen noch mehr waren, die so eine schwarze Haut hatten wie der Bote ihres Vaters.

Auch den nächsten Tag war Merat mit ihrer Amme in der Sänfte eingesperrt. Tabit versuchte, ihren Schützling mit Liedern, Versen und Fingerspielen bei Laune zu halten, aber für Merat wurde die Reise immer unerträglicher. Daher erinnerte sie die Amme jedesmal, wenn sie Pferde oder Reiter erwähnte, daran, daß sie reiten könnte und gut den Weg auf ihrem Pferd hätte zurücklegen können. Und so verstummte Tabit schließlich und für Merat wurde es noch langweiliger.

Am dritten Tag wurde es schon im Laufe des Morgens immer wärmer, so warm, daß Tabit ihr Überkleid in der Enge der Sänfte über den Kopf abstreifte und sogar Merat aus ihrem Kittel half. Auch die Luft wurde irgendwie anders, Merat fühlte sich dadurch an die Waschbottiche und Trockenleinen zwischen den Zelten des Stammes erinnert. Und am Abend endlich erreichte die Karawane eine Ansammlung steinerner Zelte, die der Bote von Merats Vater 'Stadt' nannte.

Es dämmerte schon, als der Bote Merat vom Kamel hob und auch Tabit auf den Boden half. "Die Tiere bleiben hier in der Karawanserei", erklärte er, "aber wir können trotzdem bequem bis zum Haus deines Vaters fahren, Prinzessin." Und er zeigte auf einen anderen schwarzen Mann, der vor einem Holzkasten mit großen Kreisen stand. Ein Wagen war das, erklärte der Bote, und der andere Mann zog sie mit seinem Wagen durch die Stadt. Endlich konnte Merat von ihrer Reise auch etwas sehen, doch es war so dunkel, daß im Licht vereinzelter Lampen nur steinerne Wände zu sehen waren. Genauso gut hätten sie sich nachts in einer Schlucht im Hochland befinden können. Aber Merat wußte, am Ende dieser Fahrt wartete ihr lang entbehrter Vater auf sie, um sie endlich wieder in die Arme zu schließen. Also kämpfte sie trotz der langweiligen Aussicht gegen den Schlaf an, doch schließlich mußte sie sich ihm ergeben.

*



Als Merat erwachte, Tabits leises Schnarchen neben sich hörte und das Zeltdach über ihrem Lager sah, dachte sie für einen Moment, sie habe die Ankunft des Boten und die Reise in den Süden nur geträumt. Aber dann merkte sie, daß es noch immer so warm und die Luft so... so feucht war. Und als sie von ihrem Deckenlager aufsprang, sah sie, daß sie nur unter einem aufgespannten Zeltdach geschlafen hatte.

Merat wollte endlich ihren Vater begrüßen und lief aus dem Schatten der Plane hinaus, um sich umzusehen. Hier stand sie hoch über den bunten Dächern der steinernen Zelte, auf einem glatten Boden, der orange und gelb bemalt war. Und weiter unten, in gar nicht so großer Ferne, versteckte eine Art Wolke etwas, aus dem nur einzelne Pfosten aus Holz wie Zeltstangen hervorstießen. Eine so große und so nahe Wolke hatte Merat nie zuvor gesehen. Fasziniert verfolgte sie, wie sie sich langsam von der Stadt fortbewegte und eine dunkelblaue Fläche und die großen, sanft schaukelnden hölzernen Schalen freigab, zu denen die Stangen gehörten.

"Ah, jetzt bist du wach, mein liebes Kind", sagte da eine vertraute Stimme.

"Vater!" rief Merat und drehte sich zu der Stimme um. Da stand er, fast genau wie sie ihn in Erinnerung hatte, doch in einem einfachen Untergewand, ohne Übergewand und den Mantel, den die Männer zu tragen pflegten. Dafür war es hier auch viel zu warm. Sie stürzte auf ihn zu, er fing sie im Laufen und hob sie hoch, um sie an sein Herz zu drücken. So lange waren sie getrennt gewesen, das sollte nie wieder passieren. Doch während sie das Ohr an seine Brust preßte, richtete sie ihren Blick wieder neugierig auf jene Wolke, die immer mehr von der blauen Fläche preisgab. "Was ist das für eine Wolke", wollte sie wissen.

"Das ist der Nebel, der in den Morgenstunden manchmal von den westlichen Inseln bis hier nach Ma'ouwat reicht. Jetzt zieht er sich wieder zurück, siehst du? Wenn die ersten Fischerboote in den Hafen kommen, ist davon schon nichts mehr zu sehen." Nebel, das war ein neues aber sehr schönes Wort, die Laute waren so weich, wie diese Wolke da unten.

Auch wenn Merat sich in späteren Jahren nicht mehr so genau an ihre ersten Tage in Ma'ouwat erinnerte, hatte der Nebel doch einen bleibenden Eindruck hinterlassen. In der trockenen Steinwüste, die Merats Stamm bewohnte, gab es nur äußerst selten einige kleine Wolken, niemals jedoch ein Phänomen wie diesen Nebel. Und seine Bezeichnung war das erste Wort der Sa'atik, das sie gelernt hatte.

* * *




Anmerkung von Elisabeth:

Diese Kurzgeschichte habe ich 2017 geschrieben.

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