Himmelskinder

Kurzgeschichte zum Thema Abrechnung

von  Elisabeth

Am blauen Himmel ziehen die weißen Schäfchenwolken vorbei, zwei junge Mädchen sitzen im Gras einer Blumenwiese am Fuße eines Berges, der von einem kleinen Wald gekrönt wird. Weit unterhalb des Waldes, aber hoch über den beiden Mädchen, fliegen ein roter und ein gelber Fleck, vermutlich Drachen, die von einer der Almen steigen gelassen werden, außerdem sind einige Schwalben zu sehen. Die Mädchen aber schauen hinauf in die Wolken.

"Die sieht aus wie eine Teekanne", sagt die Dunkelhaarige.

"Ne, eher wie ein Elefant", widerspricht die Blonde.

"Blödsinn. Das ist kein Elefantenrüssel, sondern eindeutig der Ausguß einer Teekanne."

"Du hast eben so gar keine Phantasie", mault die Blonde wieder. Sie rupft fast zornig eine der Pusteblumen aus und läßt die von weißen Schirmchen getragen Samen in den Himmel fliegen.

"Ich will auch", sagt die Dunkelhaarige, greift an ihrer Freundin vorbei nach einer weiteren Pusteblume, schickt ihre Schirmchen denen der anderen hinterher.

"Hey, das sind meine Pusteblumen", protestiert die Blonde, reißt mit einem Griff gleich drei der neben ihr wachsenden, reifen Löwenzahnstengel aus, so daß durch diese heftige Bewegung schon einige der Schirmchen vom Wind davongetragen werden, dann holt sie tief Luft.

Aber die Dunkelhaarige beugt sich schnell vor zur Hand ihrer Freundin, pustet und löst so die Schirmchen von den Stengeln. Doch als sie dann hastig wieder Luft holt, noch über den gerade gelösten Schirmchen, atmet sie einige der Samen mit ein. Sie hustet, beginnt blau anzulaufen, rührt sich nicht mehr.

*


Die Pusteblumenschirmchen fliegen immer höher, verteilen sich im Luftstrom, vorbei an dem Seil des anscheinend handgemachten, roten Drachen mit langem, bunten Papierschwanz und einem kindlich gemalten Gesicht. Er tanzt im Wind, ganz in der Nähe des gelben Drachen aus mehreren Nylonquadraten, gelegentlich umrundet von einer der insektensuchenden Schwalben. Die Schnüre führen beide hinunter auf dieselbe frisch gemähte, am Rande etwas steinige Bergwiese, von der aus zwei Jungs diese Drachen steigen lassen.

"Meiner kann noch höher", prahlt der Rothaarige mit dem gelben Drachen.

Der jüngere Schwarzhaarige überlegt, was er da entgegenhalten kann, denn die Schnur seines Drachen ist fast völlig abgewickelt. "Dafür... dafür hab ich meinen selbst gemacht!" ruft er schließlich triumphierend und läuft ein Stück über die Wiese, so daß der rote Drache mit dem bunten Papierschwanz in der Luft tanzt. Er läuft weiter, guckt dabei auf den Drachen, anstatt auf den Weg zu achten und stolpert schließlich, verliert den Stock, von dem der Rest der Schnur sich in Windeseile löst. Der Drache fliegt wie befreit in Richtung Berggipfel davon.

Der Rothaarige grinst im Laufen über das Mißgeschick des Jüngeren, stolpert selbst, umklammert dabei aber die Halterung seiner Drachenschnur. Er stürzt mit dem Kopf auf einen Stein, bleibt bewegungslos liegen.

*


Der rote Drache fliegt höher, erreicht die grünen Baumwipfel an der Spitze des Berges, die lange Schnur verfängt sich in Ästen, aber der Drache flattert weiter im Wind. Zwei große, schillernde Insekten steigen auf aus den Bäumen, umschwirren den Drachen, der wie ein Fremdkörper in ihr Reich eingedrungen ist.

Von Nahem sehen die Insekten eher aus wie Blumenfeen, winzig kleine Menschen mit surrenden Libellenflügeln, gekleidet in Blätter und Gräser, mit kindlichen Gesichtern und wuscheligen Haaren, beim einen kornblumenblau, beim anderen grasgrün. Jetzt klammern sie sich an den Papierschwanz des Drachen, beginnen nach oben zu dem gemalten Gesicht zu klettern. Es wird ein Wettrennen mit vielen Tritten nach unten.

Außer Atem erreicht zuerst das Kerlchen mit den grünen Haaren die Spitze des Drachen, der sich im Wind heftig bewegt. "Erster!" ruft es. "Also gehört er jetzt mir."

"Das ist so gemein. Du hast mich beim Klettern getreten, sonst wär' ich als erster oben gewesen. Das sag' ich Mama!" plärrt das blauhaarige Kerlchen und klammert sich mit ganzer Kraft etwas unterhalb der Spitze an den Rahmen des Drachen.

"Bähhh!" streckt das grünhaarige Elfenwesen seinem Geschwisterchen die Zunge heraus, hält sich nur mit einer Hand an der Spitze des Drachengestells fest, beugt sich weit zu dem anderen. "Ich hab's sowieso zuerst gesehen. Kannst froh sein, daß ich dir erlaubt habe, mit hochzuklettern."

Ein plötzlicher Windstoß erschüttert den Drachen, die beiden Feen werden abgeschüttelt, der Drache ist frei und fliegt schnell davon in den endlosen Himmel.

"Geschieht dir recht", sagt das Blauhaarige. "Du bist viel zu gierig."

"Ich find schon was Neues", sagt das Grünhaarige, da werden einige Pusteblumensamen vom Wind vorbeigetragen und geschickt greift das Grünhaarige zu. Da wird es selbst von einer vorbeifliegenden Schwalbe geschnappt und verschwindet in ihrem Schnabel.

* * *




Anmerkung von Elisabeth:

Diese kurze Geschichte habe ich 2008 geschrieben.

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