Spiegelbilder

Kurzgeschichte zum Thema Entscheidung

von  Elisabeth

Sie stand auf der Brücke. Unter ihr, irgendwo in der Dunkelheit, war der Fluß, dessen Inhalt schon lange keine Berechtigung mehr hatte, sich 'Wasser' zu nennen. Mit einer Hand umklammerte sie das kalte Metallgeländer, in der anderen hielt sie ihren zugeklappten Schirm.

Der Nieselregen verdichtete sich zu großen, kalten Tropfen, die ihr auf Gesicht und Haare fielen. Im Zwielicht der Straßenlaterne sah sie, wie sie große, dunkle Flecken auf ihrem Mantel hinterließen.

Minutenlang starrte sie in die Dunkelheit, beachtete weder den Regen, noch die wenigen nächtlichen Passanten, die schnell vorübergingen.

Vor zwei Tagen hatte in der Zeitung gestanden, daß ein junger Mann im Zoo in den Raubtierkäfig gestiegen war, um sich zerfleischen zu lassen. Andere verbrennen sich, stürzen sich von Hochhäusern oder Türmen in die Tiefe, einige überleben...

Etwas veranlaßte sie, den Kopf zu drehen, und sie sah eine hellgekleidete Gestalt, die etwa drei Meter von ihr entfernt stand, eine Hand am Geländer.

Die Gestalt stand dort, ein wenig in sich zusammengesunken, mit langem dunklem Haar, das in nassen Strähnen herunterhing, so wie ihr eigenes.

Es war ganz ruhig geworden. Nur das beständige Rauschen des Regens, das Pladdern der Tropfen war zu hören. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und bemerkte, daß die Gestalt die Geste wiederholte.

Die Frau ihr gegenüber hielt ein Schwert, dessen Klinge funkelte, als sie das spärliche Licht der Straßenlaterne einfing. Sie trug einen hellen Umgang, darunter war sie dunkel gekleidet. Das Gesicht der Frau wirkte streng, die Augenbrauen ein wenig zusammengezogen, die Lippen aufeinander gepresst. Sie straffte die Schultern, als sie merkte, daß sie beobachtet wurde und sie folgte dem Beispiel.

*


Sie faßte das Geländer fester, das ihre einzige Verbindung zur Realität zu sein schien.

Die Frau ihr gegenüber schaute sie verwundert an, vielleicht sogar ein wenig ängstlich, die Augen geweitet, der Mund leicht geöffnet, die Gesichtszüge wie erstarrt. Das Ding in ihrer Hand hatte eine Metallspitze, die im Licht der trüben Lampe glänzte, war aber kein Schwert.

Sie öffnete die Hand, das Schwert entglitt ihr und fiel mit einem seltsam dumpfen Klang zu Boden.

Sie schaute über das Geländer, die Schwärze war jedoch undurchdringlich.

Ihre Rüstung zog sie nach unten, und sie ließ sich ziehen. Eine kalte, bittere Flüssigkeit füllte ihren offenen Mund...


*


Sie warf den Regenschirm beiseite und beugte sich weit über das Brückengeländer. Von der Frau war nichts mehr zu sehen, die giftige Schwärze des Flusses hatte sie lautlos verschluckt.

Das Schwert lag auf dem Bürgersteig. Sie hob es auf und fuhr mit dem Zeigefinger über die stumpfe Seite der Klinge. Der Stahl glänzte im Licht der Laterne bläulich.

Wieviel würde ein Museum wohl für dieses Schwert geben?

Genug, um die Schulden abbezahlen zu können, die Miete, das Studium wieder aufzunehmen, ein Kleid kaufen, essen gehen, mit ihrem Freund ins Kino, die Eltern anrufen, den Kater füttern...

Sie fiel zu Boden, als das Schwert sie durchbohrt hatte. Ihre Hände verkrampften sich vor Schmerz um das Heft...


* * *



Anmerkung von Elisabeth:

Dieser Text stammt ursprünglich von 1982 und wurde 1985 noch einmal gründlich überarbeitet.

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Kommentare zu diesem Text


 uwesch (15.10.23, 21:34)
Welch ein Drama. LG Uwe

 Elisabeth meinte dazu am 16.10.23 um 17:37:
Hallo Uwe,

ganz herzlichen Dank für Deinen Kommentar.

Ja, da hast Du ganz recht, und aktuell würde ich so einen finsteren Text nicht mehr schreiben.

Ich hab ihn rausgesucht, damit es nicht heißt, ich würde immer nur Rosiges schreiben, aber im Grunde bildet er nicht meine aktuellen schreibtechnischen Interessen und Bestrebungen ab.

Liebe Grüße von Elisabeth.

 Dieter_Rotmund (16.10.23, 09:25)
Wenn der Erzähler das Schwert als Nicht-Schwert bezeichnet, darf er seriöserweise selbiges fortan nicht mehr Schwert nennen.
Oder du arbeitest mit einem sog. "unzuverlässigen Erzähler", aber das gibt der Text kaum her und ist auch ziemlich schwer....

 Elisabeth antwortete darauf am 16.10.23 um 17:41:
Hallo Dieter_Rotmund,

ich verwende hier eigentlich eine personale Perspektive - mit zwei Protagonistinnen, von denen die eine ihren Schirm 'Schirm' nennt und die andere den unbekannten Gegenstand mit Metallspitze 'nicht Schwert'.

Um den Wechsel zwischen den Protagonistinnen zu verdeutlichen, habe ich die Sternchen eingefügt - die eigentlich Absätze sind, aber da ich meine Zeilenumbrüche für das leichtere Lesen am Bildschrim zu Absätzen mache, steigere ich mich für den Absatz eben zum Sternchen.

Ich dachte, das macht man so. Mehrere Kapitel mit entsprechenden Überschriften würde dieser kurze Text meines Erachtens nämlich nicht hergeben.

Ich hätte die ganze Geschichte natürlich noch viel ausführlicher schreiben können, damit das mit den Kapitel paßt, aber dann wäre sie auch um ein Vielfaches länger und mit sehr viel mehr Adjektiven gespickt gewesen.

Ich hab doch gesagt, kurz kann ich nicht. Oder hatte ich das noch nicht gesagt? Dann sei es hiermit gesagt: Was andere Leute in 10 Worten sagen, dafür brauche ich mindestens 100. Und das ist, wenn ich mich kurz fasse.

Schöne Grüße von Elisabeth

Antwort geändert am 16.10.2023 um 17:41 Uhr

Antwort geändert am 16.10.2023 um 17:50 Uhr

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 17.10.23 um 18:18:
Das mit den Sternchen funktioniert nicht. 

 Elisabeth äußerte darauf am 17.10.23 um 22:18:
Meinst du, es funktioniert technisch nicht oder meinst du, du hast meinen Plan dahinter nicht verstanden oder meinst du, es gibt eine typographisch korrekte Lösung, die dir bekannt ist, aber die ich nicht angewandt habe?

Über eine Aufklärung zu dieser Sache wäre ich sehr dankbar, weil ich dieses System seit Jahren verwende. Je eher ich weiß, wie ich es ändern sollte, desto schneller bin ich damit bei meinen Texten durch.

Herzlichen Dank für Deine Hilfe, lieber Dieter_Rotmund.

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 18.10.23 um 17:16:
Du hast sogar innerhalb des Kapitels "*" einen Perspektivwechsel, was die beschriebene Irritation auslöste.
Es gibt die gute Konvention, dass Perspektivwechsel mit in längeren Kapiteln gemacht wird, die dann auch richtige Kapiteltitel haben. Manchmal sieht man auch die Lösung nicht kursiv/kursiv, was aber eher eine Krücke ist.
Aber wichtiger wäre, dass du dir diese blumigen Adjektive abgewöhntst, finde ich. Und Achtung, es gibt hier auf kV genug Lobhudler, die das noch loben, mit dem Hintergedanken, dass du dann deren schwülstige Texte lobst.

 Elisabeth meinte dazu am 20.10.23 um 21:11:
Nein, ich hab eben noch mal geschaut, kein Perspektivwechsel zwischen den *, da bin ich mir sicher. Erster Teil rein Prota A mit Schirm, zweiter Teil rein Prota B mit Schwert, dritter Teil wieder rein Prota A, mit Schwert dann allerdings.

Ja, Perspektivwechsel in längeren Werken, immer schön nach Kapiteln, mache ich auch, in einem Roman. Und in einem anderen Roman wechsel ich schon mal von Absatz zu Absatz, aber die jeweilige Introspektive macht dann ganz klar, in wessen Kopf man sich gerade befindet.

Ich gebe zu, die kurze Form macht das Ganze verwirrend, vielleicht ist es nur für mich klar, weil ich ja weiß, wer Prota A und wer Prota B ist. Dann bitte ich, die Verwirrung zu entschuldigen. Ich werde diesen im Kern 41 Jahre alten (in der vorliegenden Fassung allerdings nur 38 Jahre alten) Text jetzt aber nicht noch mal gründlich überarbeiten, dazu hab ich bei seiner düsteren Thematik aktuell so gar keine Lust.

Und das mit den 41 Jahren Schreiben mit blumigen Adjektiven erklärt vielleicht auch, warum mir die inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen sind. Wenn ich Dich eher kennengelernt hätte, wäre das vielleicht meine Rettung gewesen, jetzt ist es - fürchte ich - zu spät.

Das mit dem 'Kommentier ich Dich - kommentierst Du mich' kenn ich auch von anderen Autorenplattformen, und nicht alle sind so höflich wie Ihr hier auf kv, daß Ihr erst mal die Neue kommentiert, anstatt drauf zu warten, daß die Neue Eure Texte kommentiert. Offengestanden bin ich ja auch für neue Eindrücke hergekommen, und damit meine ich nicht die Funktion des Texteditors, sondern eher die Werke anderer.

Ich fang mit dem Lesen einfach bei denen an, von denen ich weiß, daß die was von mir gelesen haben, weil sie sich unter dem Text verewigt haben. Sonst wird man von der Fülle hier ja auch erschlagen.

Ob ich die Texte anderer dann als schwülstig oder schön zu lesen ansehe, oder mir dazu noch was anderes einfällt, werden wir dann ja sehen, wenn ich mal genügend Muße zum Lesen habe. Wird ja richtig Streß hier, wenn man mal einen Tag keine Zeit hatte, zu schauen: ewig viele Kommentare, zu denen eine Antwort erwartet wird. Da komme ich erst in Monaten dazu, mal einfach nur herumzustöbern.

Ganz herzlichen Dank für Deinen Kommentar, lieber Dieter_Rotmund.

Schöne Grüße von Elisabeth

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 25.10.23 um 11:02:

Das Ding in ihrer Hand hatte eine Metallspitze, die im Licht der trüben Lampe glänzte, war aber kein Schwert.

Sie öffnete die Hand, das Schwert entglitt ihr und fiel mit einem seltsam dumpfen Klang zu Boden.

 Elisabeth meinte dazu am 27.10.23 um 19:54:
Der erste Teil ist der Blick auf die andere, 'ihre Hand' ist hier die Hand der anderen, die in dem ganzen Absatz, aus dem Du hier nur einen Teil zitierst, im Fokus steht. 

Der zweite Teil ist auf sich selbst bezogen, da ist 'ihr' die Protagonisten des Absatzes.

Ja, das ist nicht sprachlich unterschieden, aber das ist ja Prinzip in dieser Geschichte, die Überschneidung, deswegen 'Spiegelbilder'.

Natürlich kann man es auch anders verstehen, aber so wie oben dargelegt habe ich es mir gedacht.

Ich hoffe, das dient der Klarifizierung.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 29.10.23 um 08:29:
Mag ja sein, aber so funktioniert es handwerklich nicht. Du kannst dich nicht einfach auf dasselbe Objekt beziehen und es zuerst Hund und kurz danach Katze nennen!
Für den Leser ist es unverständlich und sehr irritierend.

 Elisabeth meinte dazu am 29.10.23 um 12:03:
Lieber Dieter,

herzlichen Dank für Deine Antwort.

Naja, das Problem, das Du mit diesem Text hast, ist ja im Kern eher, daß ich einmal die Katze und einmal den Hund 'bepelzter Vierbeiner' nenne.

Aus verschiedenen Perspektiven ist ein Regenschirm ein 'Regenschirm', aber für den, der so etwas vorher noch nicht gesehen hat, 'ein Stock mit Stoff und einer Metallspitze'.

Ja, ganz objektiv ist es vielleicht unverständlich und ganz sicher irritierend. Diese Irritation kann aber auch dazu führen, daß die Leser sich mit dem Text auseinandersetzen (wie man zum Beispiel auch an Deinen Kommentaren sieht) - oder es kopfschüttelnd beiseite legen.

Gedacht war die Geschichte als kurzer Blick gewissermaßen zwischen die Welten (die Wirkliche und die Gedachte oder ein Blick an die Stelle, an der sich Universen überschneiden, oder vielleicht auch in eine Psyche in Scherben), nicht, um allgemeingültige Wahrheiten zu erklären.

Da mir die Sprache erlaubt, so zu schreiben, denn für mich als Betrachter ist sprachlich die Hand der weiblichen Person A und die Hand der weiblichen Person B gleichermaßen 'ihre Hand', ist die Irritation handwerklich trotzdem korrekt, da sprachlich korrekt. Die Sprache ist ja unser Handwerkszeug beim Schreiben.

Einen schönen Sonntag wünscht

Elisabeth / Bettina

Antwort geändert am 29.10.2023 um 12:05 Uhr

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 29.10.23 um 13:04:

Diese Irritation kann aber auch dazu führen, daß die Leser sich mit dem Text auseinandersetzen
Nein. Der Leser ist nicht für dich da, du schreibst für den Leser. Alles andere ist einfach nur manieriert. Der Leser will kein komplette Text-Analyse machen, um herauszufinden, was der hohe Herr Künstler vielleicht gemeint haben könnte.  Der Leser hat das Recht auf einen Text, der handwerklich in Ordnung ist. Erst muss die Form stimmen, muss man sein Handwerk können, dann erst geht es an den Inhalt. 



 Elisabeth meinte dazu am 29.10.23 um 14:57:
Versuch das mal meinem 17-jährigen Ich, das die Geschichte geschrieben hat, zu erklären.

Ich habe diese oben angemerkte Analyse jetzt, also zum Zeitpunkt meines Kommentars, vorgenommen.

Geschrieben habe ich den Text, indem ich eine vage Idee so gut wie möglich umgesetzt - und dann später noch deutlich eingekürzt - habe, auf etwas, was für mich damals eine passende Aussage hatte.

Ich verstehe diese Aussage noch, aber ich fühle es nicht mehr, daher habe ich zur Analyse gegriffen, wie bei dem Text eines Fremden. Trotzdem stehe ich noch zu diesem Text, denn sonst hätte ich ihn hier gar nicht hochgeladen.

Und ja, inzwischen schreibe ich für den Leser - oder versuche es zumindest ernsthaft -, aber damals habe ich definitiv für mich geschrieben und als 'hohe Dame Künstlerin' den Leser fressen oder sterben lassen.

An der handwerklichen Ordnung scheiden sich offenbar unsere Geister, aber daß der Leser die Interpretationshoheit hat, da gebe ich Dir heutzutage in jedem Falle recht.

Insofern, lieber Dieter, ja, hier in der Geschichte ist die handwerkliche Ordnung nicht gegeben, denn die Autorin hat einen ****** darauf gegeben, ob der Leser oder die Leserin das verstehen kann, was sie meinte.

Danke, daß Du mich mit Deinem Insistieren dazu gezwungen hast, dieser Tatsache ins Auge zu sehen.

Das ist für mich wirklich ein großer Erkenntnisgewinn.

Und anscheinend habe ich über ein paar Jahrzehnte doch als Autorin etwas dazugelernt.

Liebe Grüße von Elisabeth / Bettina

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 29.10.23 um 15:13:
ja, mit 17 habe ich auch noch viel Gerümpeliges geschrieben... 

Chapeau, dass dir die alten Sachen nicht peinlich sind, meine sind es mir!

 Elisabeth meinte dazu am 29.10.23 um 17:52:
Naja, ich meine ja, handwerklich stimmts was soll mir dann peinlich sein. Daß sich die eigene Weltsicht im Laufe der Jahre ändert, ist ja nichts Ungewöhnliches.

Da ich im Laufe der Jahre gemerkt habe, daß es auch von meinem Alter abhängt, ob mich ein fremder Text mehr oder weniger anspricht - gerade weil der Autor da meinem eigenen Alter näher oder weniger nah war - dachte ich, ich kann es wagen. Ohnehin gibts die Sachen auch auf Papier in einigen Bücherschränken: Die Büchse wieder schließen, dafür ist es zu spät.
Agnete (66)
(17.10.23, 11:55)
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 Elisabeth meinte dazu am 17.10.23 um 13:31:
Hallo Agnete,

herzlichen Dank für Deinen Kommentar.

Ich glaube, mit der Bemerkung 'unentrinnbar' legst Du genau den Finger darauf, warum ich zwar immer noch zu dieser Geschichte stehe, aber nicht mehr in dieser Form schreiben würde. Dafür bin ich wohl nicht analytisch genug, um das selbst zu erkennen.

Ganz herzlichen Dank also für diese Erkenntnis.

Liebe Grüße von Elisabeth / Bettina
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