Der Moment des Stehenbleibens

Tagebuch zum Thema Erwachsen werden

von  IngeWrobel

 

 

Oliver lief vor seinem Vater, der ihn schlagen wollte, weg: um den Tisch herum, sozusagen im Kreis. Manchmal wurde er erwischt und bestraft für eine Provokation.

 

Es ist schon eigenartig, dass starke Erwachsene sich für eine verbale Provokation von Kindern, die nichtmal halb so stark sind wie sie, mit körperlicher Gewalt „rächen“.

 

Oliver unterbrach eines Tages den Kreis, indem er stehenblieb und sich vor seinem Vater „stellte“. Nach einem Schlagabtausch war das Kräfteverhältnis geklärt und es gab keine Verfolgungsjagden um Tische mehr.

 

Auch Inge hatte diesen Moment des Stehenbleibens. Nachdem die Jagden um den Tisch, begleitet von üblen Schimpfwörtern, von ihrer Mutter an den Stiefvater übergeben wurden, sah Inge diesem eines Tages trotzig ins Gesicht und sagte: „Schlag mich doch, am besten gleich tot, dann habt ihr endlich eure Ruhe vor mir!“

Die erhobene Hand erstarrte in der Luft. Auch hier war das Kräfteverhältnis ab sofort geklärt.

 

Es ist schon eigenartig, dass starke Erwachsene sich für  eine verbale Provokation von Kindern, die nichtmal halb so stark sind wie sie, mit körperlicher Gewalt „rächen“.

 




Anmerkung von IngeWrobel:


Erinnerung, hochgespült nach einem im TV gesehenen Interview mit Oliver Masucci am 03.12.2023 

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Kommentare zu diesem Text


 S4SCH4 (03.12.23, 21:55)
Hallo IngeWrobel, 

der Text macht nachdenklich.
Wenn ich mir erlauben darf, etwas dazu zu sagen:

Rache kann gnadenlos sein, sie trifft wirklich jeden.
Und:
Der Junge holt sich seine Tracht Prügel ab und es ist geklärt. 
Das Mädchen lässt die Hand erstarren; es eskaliert auf lange Sicht.

Gruß,
sascha

Kommentar geändert am 03.12.2023 um 22:00 Uhr

 Rosalinde meinte dazu am 04.12.23 um 08:39:
Liebe Inge,

dein Text lässt in mir eine ganz ähnliche Erinnerung aufkommen. Meine Schwester war zehn, ich zwölf Jahre alt.
Wir beide hatten irgend etwas verbrochen, was, das habe ich vergessen. Meine Mutter war erbost, es muss irgendeine nicht getane Aufräumungsarbeit gewesen sein oder so etwas.

Wir befanden uns bei der Gardinenpredigt in unserer Küche, der Küchentisch in der Mitte, meine Mutter in ihrer Verzweiflung, mit den halberwachsenen Gören nicht fertigzuwerden, griff zum Handfeger als einzigem Ausweg, um der Situation als Mutter gerecht werden zu können.
In dem Moment, als sie glaubte, jetzt habe sie uns mit ihrem Erziehungsmoment, nämlich dem Handfeger, genug gesagt, lief meine Schwester auf die andere Seite des Tisches, ich hinterher. Meine Mutter, die begriff, dass nichts als ihr Handfeger ihre Autorität noch retten konnte, hinter uns beiden hinterher. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir um den Tisch herumgelaufen sind, plötzlich blieb meine Mutter stehen, legte den Handfeger aus der Hand, und ich hatte den Eindruck, sie würde gleich weinen. Ich war betroffen, war sie doch unsere Mutter, ich wollte sie nicht weinen sehen und ging stillschweigend aus der Küche, meine Schwester überlegte noch, ob sie aufgeben sollte. So hat jeder seine Kindheitserinnerungen, du hast das Thema aufgegriffen, aber aus der Sicht der beurteilenden Erwachsenen. Als Geschichte, die aus solchen Erinnerungen entstehen könnte, würde ich deinen Text nicht sehen, eher als einen Kommentar zu einer
dokumentarähnlichen Meinungsäußerung. Vielleicht hättest du den Text eher in der Rubrik Rezensionen posten sollen? Ich bin da zwar nicht ganz sicher, denke aber, dass er dort hingehört.

Liebe Grüße, Rosalinde

 IngeWrobel antwortete darauf am 04.12.23 um 10:46:
Hallo sascha, 
vielen Dank für die Auseinandersetzung mit meinem Text! 

Bei der Beurteilung der Situation des Oliver stimme ich nicht mit Dir überein. Ich gebe aber zu, dass die knappe Beschreibung von mir wohl zu Deiner Schlussfolgerung führen muss. Deshalb ergänze ich die Szene, um deutlich zu machen, was meinem Text den Titel gibt: In dem Moment, in dem der Junge nicht mehr vor dem Vater wegläuft, stellt er sich diesem zum ersten Mal – steht ihm sozusagen als ebenbürtiger Gegner gegenüber. Das ist der Moment, in dem er zum Erwachsenen geworden ist. 
Konkret gab es eine "Ohrfeige" vom Vater, der eine solche vom Sohn folgte. Danach war alles geklärt und es gab keine "Prügel" mehr. 

Bei Inge ist der Fall etwas anders ... das erkläre ich in meiner Antwort an Rosalinde. 

Ich danke Dir für die Empfehlung und schicke liebe Grüße 
Inge

 IngeWrobel schrieb daraufhin am 04.12.23 um 11:37:
Liebe Rosalinde, 
danke für die Beschreibung Deiner eigenen Erfahrung! 

Bemerkenswert finde ich die Reaktion Deiner Mutter: Hier ist sie diejenige, die im Moment verharrt – und sich ihrer Machtlosigkeit bewusst wird. 

Auch bei mir gibt es eine Schwester, die in dem Fall eine Rolle spielt: Erst vor wenigen Jahren erzählte sie mir von dem Szenarium, wie meine Mutter, mich laut beschimpfend, um den Tisch herum hinter mir herlief. 
Meine kleine, 13 Jahre jüngere, Schwester saß verängstigt in der Ecke des Zimmers und musste das wohl öfter miterleben. Ich selbst hatte das total verdrängt. Für mich ist diese Verdrängung ein Beweis für den seelischen Selbstschutz, ein natürlicher Reflex des Selbsterhaltungstriebs. 

Meine "Bestrafung" hatte meine Mutter irgendwannmal an meinen Stiefvater delegiert. Bei ihm wurde ich nicht (z.B. mit der Verlängerungsschnur des Bügeleisens) auf den Rücken und Po geschlagen, wie von meiner Mutter, sondern von ihm bekam ich Schläge ins Gesicht. 

Der Moment des Stehenbleibens, wie beschrieben, war nicht nur das Ende der Schläge ... mir wurde in dem Augenblick klar, dass mein Vater mich liebte und mich eigentlich gar nicht strafen wollte. Auch er erkannte, dass er von meiner Mutter zum "Handlanger" (wie passend, sozusagen die verlängerte Hand seiner Frau) gemacht wurde. 

Zwischen den Tischumkreisungen und Prügeln meiner Mutter und der Szene mit meinem Stiefvater lagen Jahre. 
Nach der im Text geschilderten Erwachsenwerdung gab es keine Schläge mehr. Ich denke, dass sich da auch im Kopf meines Stiefvaters etwas gewandelt hatte, denn er liebte mich wie ein eigenes Kind, das spürte ich. 

Obwohl schon erwachsen, konnte ich erst nach mehreren Ausrissversuchen von zu Hause endgültig gehen, als ich das "Volljährigkeitsalter" von damals 21 Jahren erreicht hatte. 

Du siehst, liebe Rosalinde, dass ich den Text zwar aus der Sicht einer Erwachsenen geschrieben habe, mich aber recht gut in meine Kindheit zurückversetzen konnte. 

Dank auch Dir für die intensive Beschäftigung mit meinem Text und 
herzliche Grüße 
von der Inge

 Gabyi (04.12.23, 14:56)
Liebe Inge,
da habe ich ganz andere Erfahrungen gemacht mit den Schlägen und den Konsequenzen für mich und meine Brüder. Ich wehrte mich danach immer gegen alles und jeden. Körperlich, soweit die Kraft reichte. Dein Text wirft dennoch ein Schlaglicht für mich auf das Thema. Danke.

LG
Gabyi
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