Schöne Aussicht!

Satire zum Thema Alter

von  Bellis

Genervt vom Stadtlärm bin ich in eine ruhige Gegend gezogen. Links angrenzend an mein Wohnhaus erstreckt sich ein Friedhof mit wunderschönen alten Bäumen. Sozusagen Grabesstille! Und von meinem Balkon aus schaue ich in den Garten eines Altersheims. Zugegeben: Erst war ich pikiert über die Namenswahl für das Altersheim („Schöne Aussicht“) – aber die doppelte Ruhe überzeugte mich! Ruhiger geht´s nicht... dachte ich. Denn was ich nicht erwartet hatte, war die Lebensfreude der alten Leutchen. Schöne Aussicht?! Aber gerne – aus der Ferne!
Was das genau hieß, begriff ich erst vor zwei Wochen.
Eines Nachmittags döste ich auf meiner Sonnenliege, als mich plötzlich typische Microphone-Soundcheck-Sounds weckten: „One-two, one-two, eins-zwoo-drei-vier-fünf-sechs-siiiiieebään... K a r t o f f e l s u p p e!“ Ich erstarrte. Ziehen die im Altersheim ihre Beerdigungsfeiern immer in großem Maßstab auf?! Wer war gestorben? Die Oberschwester? Der Gigolo? Die gesamte Canasta-Runde? Wer auch immer – da man Lautsprecher für die Trauerrede verwendete, würde ich es bald erfahren.
Das Mikrophon quietschte, als der Checker versuchte, die Bröckchen der „Kartoffelsuppe“ abzuwischen - stellte ich mir vor. Wieso eigentlich „Kartoffelsuppe“? Meine Neugier auf den Verstorbenen wuchs. War´s der Koch?
Ich erhob mich und spähte über die Balkonbrüstung. Doch die Wipfel der Bäume im Altersheimgarten verdeckten mir die Sicht, ich konnte leider überhaupt nichts sehen.
Plötzlich ertönten ein paar Takte eines typischen deutschen Schlagers, shuffle shuffle schrumm schrumm... gefolgt von der halbherzigen Vokalprobe eines gemischtgeschlechtlichen Gesangsduos, schalalalala – ohohooo... Oh nein!! Das war gar keine Beerdigung dort drüben! Die waren dabei, eine Party vorzubereiten!
In der nächsten dreiviertel Stunde wurde ich immer nervöser, denn die von drüben in minutiösen Abständen herüberwehenden Liedfetzen waren nicht aufgrund der die Hörbarkeit beeinträchtigenden Entfernung fragmentarisch, sondern, weil jedes Lied nur angesungen wurde. Das Hauff-Henkler-Double (für die Wessis: Marianne-Michael) beherrschte offenbar alle gängigen Ost-West-Schlager der letzten zwanzig Jahre. Nach der dreiviertel Stunde kannte ich das gesamte Repertoire und mein Entsetzen keine Grenzen, denn ich konnte bei fast jedem Lied wenigstens die ersten zwei Zeilen des Refrains mitsingen!
Punkt 14 Uhr, nach dem Mittagsschlaf der Insassen, wurden offenbar die Hörgeräte aus sicherheitstechnischen Gründen abgestellt und die Verstärker um mehrere Phon-Potenzen aufgedreht. Mir flogen fast die Ohren vom Stamm, als die beiden Duettisten loslegten – diesmal richtig und nicht mit halber Kraft – und verblüffend passend zum Ambiente: „Mit 66 Jahren... Du kannst nicht immer 17 sein... Abschied ist ein scharfes Schwert... Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei... Ich sterbe nicht noch mal...“ Schunkelten die Rentner tatsächlich DAZU in ihren Schaukel- / Rollstühlen mit? Na schön, auch meine Füße zuckten rhythmisch. Aber die Lautstärke war wirklich nur schwerhörig zu ertragen... Wie lange war mein letzter Disco-Besuch jetzt eigentlich schon her? Länger hielt ich es jedenfalls nicht mehr aus, und bei „Immer wieder sonntags...“ floh ich, voller böser Vorahnungen, ins Wohnzimmer und verriegelte Türen und Fenster.
Nach drei Stunden hatte ich es überstanden. Beim letzten Lied, der „Polonaise bis Blankenese“, malte ich mir aus, wie rührige Schwestern die aufgekratzt kichernden alten Leutchen alphabetisch ordneten und sie dann, von der Oberschwester angeführt, zum Pillenausgabeschalter führten.
Dann war Ruhe. Drei Minuten lang. Bis zur Zugabe: „Jugendliebe“. Ich fühlte, wie sich mein Kinn auf meinen Brustkorb senkte. Wer hatte sich das gewünscht? Wieso lebte der schon im Altersheim?! Und ich begann, darüber nachzudenken, ob ich mir bald ein Plätzchen reservieren lassen sollte – ob nun mit schöner Aussicht oder Grabesstille konnte ich in meiner depressiven Stimmung nicht entscheiden...
Erst als ich ein paar Tage später die plakative Ankündigung des zweiten Sommerfestes im Seniorenheim „Schöne Aussicht“ las (und die Vorankündigung von weiteren Events!), stand mein Entschluss fest: „Ein bisschen Spaß muss sein... Heute hau´n wir auf die Pauke... Sieben Fässer Wein... Wir machen durch bis morgen früh...“
Macht schon mal ein Bett frei, Leute, „Erna... äh... Bellis kommt!“

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text

mueller (39)
(08.07.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Bellis meinte dazu am 08.07.05:
Jetzt fang Du ooch noch an, über meine gewählten Genres zu meckern. Ist doch Wurscht! Schön, daß Du lachen konntest. ;o)
zackenbarsch† (74)
(10.07.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Bellis antwortete darauf am 10.07.05:
Freut mich sehr, daß ich Dich zum Lachen bringen konnte, lieber Friedhelm. ;o) Liebe Grüße, Bellis.
daniela (39)
(01.08.05)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Bellis schrieb daraufhin am 02.08.05:
Danke Dir! :o)
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram