Schmuddelkind

Text

von  Jane_Doe

Einer meiner Texte wurde heute von einem Möchtegern-Lyriker auseinandergenommen. 


Er sezierte jeden einzelnen Satz, zog ihn in die Länge und ließ ihn danach schmerzlich zurückschnappen. Schnitt Satzglieder ab, legte Bypässe und Stents, mikroskopierte Satzzeichen und schlug mit einem Holzhammer auf ihn ein. Der Sinn und die Aussagekraft wurden gedreht, verknotet, ausgewrungen und in die Ecke geworfen. 


Als mein Text zu mir zurückkam, weinte er bitterlich und schimmerte grün-blau. Ich nahm ihn fest in den Arm, küsste ihm die Tränchen weg und sagte ihm, dass er wirklich ein paar Schwachstellen hat, die ihn deswegen aber nicht schlecht machen. Die können wir ja schnell ausbessern. Und bei dem Rest solle er sich nichts denken, der Folterknecht hätte keine Ahnung und wäre einfach ein verklemmter Idiot mit Ödipuskomplex. 

Da grinste er wieder schief und trollte sich hinkend in seine Schublade. 


Ich nahm die Literaturdiagnose zur Hand und las das Armutszeugnis: "Der Satz x ist lahm und Emogewäsch", "In Absatz y eklatante Tempusmängel. Man muss Präsens, kein Plusquamperfekt verwenden!" und "Kein Mensch reagiert in der Situation so und so. Man sagt dann das und das". Ich zog meine Augenbrauen hoch und atmete tief ein, verstand ich die Tränen meines Textes doch nun ganz genau. 


Meine Texte sind meine Kinder. Gezeugt durch Wut, Verzweiflung, Liebe. Geboren von mir. Manchmal fielen sie aus mir nur so heraus - plumps - und manchmal dauerten die Wehen Stunden und Tage, sodass man sich wünschte, jemand würde sich auf den Kopf setzen und der Text wäre endlich hinausgepresst. 

Jeder einzelne hinterließ eine Wunde, die hin und wieder aufbricht, wenn man versucht den entsprechenden Text in eine Richtung zu drängen. 

Wie jede Mutter bin ich stolz auf die kleinen Scheißer, weiß aber auch um ihre Fehler. Manche sind so groß, dass man sie nicht alleine ausbessern kann - es gibt halt eine Text-Super-Nanny im Fernsehen. Diese Texte lässt man dann lieber zuhause mit ihren Brüdern spielen, anstatt mit Fremden, die ihnen vielleicht wehtun könnten. 

Andere Texte sind schon ziemlich stark und erwachsen geworden. Können für sich alleine stehen und brauchen mich fast nicht mehr. Manchmal besuch' ich sie noch und habe Tränen in den Augen, weil sie so selbstständig geworden sind. Erinner' ich mich doch noch an die Nacht, in der sie entstanden, als ob es erst gestern war. 


Und wenn dann jemand daher kommt und mich eine Rabenmutter schimpft, da "man" so etwas nicht macht, dann braucht es eine Menge Gelassenheit, um nicht einfach mit der Textwickeltasche auszuholen. Meine Texte sind kleine Persönlichkeiten, die ganz genau wissen, wo es hingehen soll. Das hab ich ihnen beigebracht. Da braucht kein Lyriker seine geschwurbelte Schreibe dranzulegen. Ein solcher Schöngeist wird meine Schmuddelkinder nie verstehen und mögen. 


Ich streiche meinem geknickten Text nochmal über die Überschrift und mache mir Notizen, wie wir die formalen Fehler ausbessern. 


Morgen, wenn er ausgeschlafen hat.



Anmerkung von Jane_Doe:

Wiederveröffentlichung. Erstmals erschienen im LaborBefund 2, 2013. 

Hier bei KV meine "Wiederauferstehung". Lang, lang ist's her. Alt bin ich geworden - leck mich am Arsch.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Agnetia (12.03.24, 21:37)
dieser Text zumindestens ist erwachsen geworden. behandelt ein Thema, das sicherlich vielen nahe geht.
Abgesehen davon, dass Lyrik und Prosa auch Handwerk ist und man hier auch offen gegenüber fairer Kritik sein sollte, steht deine eingeforderte "Eigenständigkeit" gleichwertig daneben. 

Kommt drauf an in welchen Forum man ist. da kann es einem schon passieren, dass Möchtegern-Germanisten jedes Wort umdrehen.
Literatur schreibt hier wohl niemand. Insofern kann  man sich hier entspannt zurücklehnen. ;)
LG von Agnete

Kommentar geändert am 12.03.2024 um 21:38 Uhr

 Jane_Doe meinte dazu am 12.03.24 um 22:13:
Dass auf KV keine Literatur veröffentlicht wird, kann man so nicht stehen lassen, denn das passiert durchaus (obgleich man dann eine intensivere Diskussion lostreten müsste, was [gute] Literatur ist). 


Danke für deinen Kommentar und die Empfehlung!  :)

 Agnetia antwortete darauf am 12.03.24 um 22:18:
Nein danke :D- die Diskussion hatten wir schon. Sie erübrigt sich auch. Man muss ja nur lesen... :D

 IngeWrobel (12.03.24, 22:27)
Hello Jane, 
nice to read You. 
Entschuldige, dass ich mich schon mal des Namens Deines Gatten Joe bedient habe. Das passte einfach perfekt für ein Drabble, das in England spielt. You understand? 
Ein Willkommen wäre auf jeden Fall meinerseits angesagt gewesen ... 
... und nun lese ich diesen klasse Text: toll! 
Ich freue mich auf die nächsten. 
Inge   :)

 Jane_Doe schrieb daraufhin am 13.03.24 um 07:28:
Hallo Inge, 

Danke für das nette Willkommensschreiben und die Komplimente zum Text.  :)

Aber mach dir keine Sorgen, Joe ist nur der Cousin meines Mannes (John), sodass du da keinesfalls unbewusst Grenzen überschritten hättest  ;)

 IngeWrobel äußerte darauf am 13.03.24 um 09:25:
:D
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram