Himbeer-Gummibärchen

Text

von  Jane_Doe

Die Menschen in der U-Bahn sehen heute irgendwie freundlich aus. 

In jedem meine ich etwas Menschliches, etwas Gütiges, das Grundgute zu erkennen. 

Mit mehreren würde ich spontan einen Latte Macchiato trinken gehen. 

Ich skippe ein Lied auf meinem Handy und trommle, in mir selbst verloren und recht gedankenlos, den Takt auf meiner Schultertasche mit. 


Die Bauarbeiter mit den Halbliter-Kannen Oettinger sehen mich an, lassen ihren Blick auf meinem verrutschten Shirtträger ruhen. Es stört mich nicht. Sollen sie schauen. Von mir aus können sie auch meine Möpse beurteilen und sich nachher selbst anfassen. Interessiert mich heute einfach nicht. 


Auf den Gehwegen liegen, wie jeden Tag, ein paar Hundehaufen. Ich spaziere drum herum, über einen hüpfe ich übermütig hinweg. Alles im Takt der Musik. Der verranzten Zecke an der Straßenecke gebe ich mein Kleingeld in die Hand und 'ne Zigarette obendrauf. 


An der Kasse lasse ich die Alte von Appartement 3b mit ihrem halbvollen Einkaufswagen vor. Keine Hektik, heute nicht. Zeit ist relativ. Sie nickt fast unmerklich mit dem Kopf und räumt ihre spärlichen Lebensmittel aufs Band, eine Katzenduftwolke hinter sich herziehend. Ich vergrabe meine Nase in das Tuch um meinen Hals und grinse hinein. 


Im Fahrstuhl pfeife ich vergnügt vor mich hin und erfreue mich an der unerwartet guten Akustik in der Blechdose. Mein klemmendes Türschloss raubt mir heute nicht den letzten Nerv, sondern zaubert mir ein "Ach, mal wieder!"-Lächeln ins Gesicht. 


Die Einkäufe verräume ich schnell und stelle nebenbei die Anlage an. Endlich schallt das Lied, was mir seit Stunden gute Laune macht, durch meine Wohnung. 


Mit dem letzten kühlen Bier in der Hand öffne ich die Balkontür und atme die stickige feuchtwarme Luft ein. Die Stadt ähnelt heute wieder einer Sauna, in der permanent Schweißaufgüsse angesetzt werden. Es stinkt nach Abgasen, die Notärzte flitzen durch die Gegend und sammeln herzkranke Omis ein, und die Leute würden sich wieder am liebsten an die Gurgel gehen. Sei es, weil jemand nicht doch noch bei Gelb gefahren ist oder weil des Nachbarn Nationalflagge auf den eigenen ragt oder weil der Andere einfach im Weg steht. 


Ich hasse den Sommer. 

Hasste. 

Hasste es, wenn ich kurz nach dem Duschen wieder klebte und jemandes penetrantes Deo in der Nase hatte, was den säuerlichen Körpergeruch nur noch verschlimmerte. 

Hasste es, wenn Wespen an jedem Mülleimer eine Brigade von aggressiven Stechern postierten. 

Hasste die Sonnenanbeterpärchen, die in Hotpants und mit Pornosonnenbrillen an einem Green Lemon nuckelten und ihre gebleachten Zähne mit geckernden Lauten entblößten. 


Heute habe ich noch nicht geduscht. Ich rieche nach Schweiß, nach Deo und nach Sex. Ich rieche nach ihr. Nach Küssen und Rotwein. Nach Kippen und auf Brustwarzen drapierten Gummibärchen. 

Heute weiche ich entspannt der nervös summenden Wespe aus und lasse sie eine Runde in meinem Wohnzimmer drehen.


Der Sommer ist da. 

In mir.  



Anmerkung von Jane_Doe:

Erstmals veröffentlicht 2016.
Hier leicht überarbeitete Version (Wording, Zeichen, Titel).

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Kommentare zu diesem Text


 Loki-Methode (14.03.24, 22:02)
Das sollte man lesen, wenn man gerade gute Laune braucht.

 Jane_Doe meinte dazu am 16.03.24 um 16:48:
Danke Loki für deinen Kommentar und ich hoffe, dass es bei dir gelungen ist ;)

 Quoth (17.03.24, 21:19)
Wahrscheinlich hattest Du gerade "Im Grunde gut" von Rutger Bregmann gelesen. Es macht gute Laune!
O nein, das gab es 2016 noch nicht. Aber vielleicht gehört der erste Absatz ja zu den Neuerungen. Doch frau kann natürlich auch selbst auf das "Grundgute" kommen.
Ja, die herzhafte Wurschtigkeit des Textes überzeugt. Auch wenn ich das Wort "entspannt" nicht mehr lesen mag.

 Jane_Doe antwortete darauf am 21.03.24 um 19:43:
Wurschtigkeit... Wie dahin gewurschtelt oder ist mir wurscht? Beides wäre zutreffend :)

 Quoth schrieb daraufhin am 22.03.24 um 19:25:
Beides nicht. Mit wunderbarem Gleichmut belichtet Dein Text Banales, Soziales und Erotisches. Das ist es, was mir gefällt.

 Dieter_Rotmund (21.03.24, 08:27)
Ist das autobio?

 Jane_Doe äußerte darauf am 21.03.24 um 19:45:
In Gänze, nein. 
In Teilen, Vielleicht. 
Einzelne Gedanken, Absolut. 

Wieso?

 Dieter_Rotmund ergänzte dazu am 23.03.24 um 07:54:
Weil es vergebliche Mühe ist, Autobio-Texte zu kommentieren. Das zeigt jahrelange Erfahrung.

 Dieter_Rotmund (26.03.24, 12:24)
"Halbliter-Kannen Oettinger"?

Das scheint mir Regiolekt zu sein...
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