Was werden die Leute denken?

Kurzgeschichte zum Thema Mensch (-sein, -heit)

von  Judas

Neulich hab ich Jesus getroffen.
Das war nämlich so: ich saß auf dem Klo und hab ein Buch gelesen, ich weiß nicht mehr, ob es Douglas Adams war oder Nichtlustig-Comics und hatte nämlich vergessen abzuschließen, da kam er einfach rein.
Ich hob den Kopf.
„Ey!“, sagte ich empört.
„Du hast nicht abgeschlossen. Wir müssen reden“, sagte Jesus.
„Du hättest klopfen können.“
„Heb deinen Hintern von der Keramik.“
„Aber...“
„Los, wir müssen reden.“
Mit scheuchenden Handbewegungen signalisierte ich ihm sich umzudrehen, legte das Buch weg, zog die Hose hoch und verließ mit ihm das Bad.

Fünf Minuten später saßen wir uns bei einer Tasse Kaffee gegenüber. Ich trug einen mürrischen Gesichtsausdruck. Jesus trug Jeans, Sandalen und ein grünes T-Shirt mit schwarzem Aufdruck: „Jesus war der erste Hippie“ stand dort. Ich zog die Augenbrauen zusammen. Der Kerl würde sich nie ändern.
Jesus pustete über seinen Kaffee, grinste kurz, trank einen Schluck, grinste weiter und sagte: „Wie geht’s dir denn, Judas?“
„Gut“, brummte ich. Sein Grinsen wurde breiter.
„Du hast ja Brüste bekommen. Soll ich dich ab jetzt Judith nennen?“
Gereizt biss ich in den Rand meiner Tasse. Zwei, drei Sekunden lang unterdrückte ich die aufkochende Wut, bis sich mein 2000 Jahre alter Frust entlud. „Ach fick dich, Jesus!“ Ich donnerte die Tasse auf den Tisch zwischen uns. Kaffee schwappte über. Eine kleine Lache bildete sich.
„Deinetwegen ist mein Karma seit 2000 Jahren scheiße! Ich bin ja froh, wenigstens endlich mal wieder als Mensch auf die Welt gekommen zu sein und nicht als Bandwurm!“
Beschämt starrte Jesus den kleinen Kaffeeteich um meine Tasse an und teilte ihn wie Moses damals das Meer. Plötzlich tat er mir ein wenig Leid. Aber ich war trotzig und nicht gewillt weniger wütend auszusehen.
Mit vor der Brust verschränkten Armen ließ ich mich in die Lehne meines Stuhls fallen.
„Wolltest du deshalb mit mir reden?“, knurrte ich.
Ohne den Blick zu heben suchte Jesus ein paar Sekunden nach Worten, in denen er den übergeschwappten Kaffee telekinetisch wieder in die Tasse füllte.
„Ja, hm... ja.“, murmelte er. Dann sah er mich an. „Weißt du, ich hatte nie die Gelegenheit gehabt dir zu danken.“ Er schien darauf zu warten, dass ich ihm entgegen kam und etwas sagte. Aber so einfach machte ich ihm die Sache nicht. Also seufzte er nur kurz und verwandelte den Kaffee in Wein. „Dafür, dass du es getan hast. Dass... du die Schuld auf dich genommen hast. Die Schuld aller... und so.“
Unverändert grimmig starrte ich weiter.
„Seit 2000 Jahren hat niemand mehr sein Kind Judas genannt.“, entgegnete ich dumpf. „Jesus, ich bin der Oberarsch der Geschichte.“
Er versuchte es mit einem schwachen Lächeln. „Ja aber wir beide wissen doch, dass es nicht so ist... nicht wahr?“ Ich hmpfte.
„Sieh mal...“, sagte er und schob mir zaghaft meine mit Wein gefüllte Kaffeetasse zu. „Ohne dich wäre das Evangelium nie aufgegangen. Du weißt schon... die ganze Sache mit der Ursünde und der ewigen Schuld und blaa... Jesus starb für alle Menschen am Kreuz und so...“, druckste er herum.
„Du wurdest an ein Stück Holz genagelt, weil du gesagt hast, wie toll du dir die Welt vorstellst, wenn alle mal nett zu einander sind“, fasste ich die ganze Geschichte zusammen ohne die Miene zu verziehen.  „Und gestorben bist du nicht mal.“ Jetzt zog Jesus eine Augenbraue hoch. „Hallo, ich bin der Sohn Gottes... ich kann Pisse zu Wein machen und auf dem Wasser tanzen, ich sterb doch nicht. Es ging ja damals auch eher um die Symbolik. Und ich brauchte halt jemanden für den Verräterjob und die andern hätten das nicht gerafft und du bist doch mein bester Kumpel...“ - „Ach, na immerhin. Und beste Freunde besucht man einmal in zwei Jahrtausenden oder wie?“ - „Ey komm, es war echt schwer, dich zu finden!“ - „Ja, weil ich verdammt noch Mal meistens ein Molch, ein Farn oder ein Meerschweinchen war!“
Ich wurde wieder wütend. Jesus merkte das und blieb einige Momente lang still. Ich griff nach der Tasse und leerte den Wein in einem Zug.

„Ich würde es jeder Zeit wieder tun“, hörte ich mich plötzlich sagen und ich schaffte es auch nicht mehr, so wütend zu klingen wie am Anfang. Jesus lächelte hoffnungsvoll. „Die Menschen werden es aber nie raffen. Du könntest dich noch tausendmal an ein Kreuz hängen. Du könntest tausendmal sagen, dass alles viel einfacher wäre, wenn jeder seinen Nächsten lieben würde. Wenn die das kapieren würden...! Aber nein, es ist für die sogar noch leichter, eine ewige Schuld mit sich rumzutragen und zu sagen ’Ohh Jesus starb für uns am Kreuz, wir müssen das wieder gut machen!’. Sie machen’s aber nicht gut. Sie machen gar nichts. Für niemanden. Alles, was du erreichen wolltest, alles, wofür du gepredigt hast ist heute wie damals für die voll für’n Arsch. Kennst du noch den Angelverein, den du damals gegründet hast?“ Jesus nickte knapp und schaute mich besorgt an. Ich lachte kurz hohl auf. „Den gibt’s immer noch. Nennt sich jetzt aber katholische Kirche, die müssen da irgendwas falsch übersetzt haben.“ Jesus zog überrascht die Augenbrauen hoch und lachte dann. „Ernsthaft?“ Ich konnte ein Schmunzeln nicht verbergen. „Ja, ernsthaft. Weißt du... bleib doch für ’ne Weile hier, kannst auf meiner Couch pennen, und schau dir das Dilemma selbst an. Ach und... gib mir mal noch ’ne Tasse Wein.“

Jesus grinste nun wieder. „Consider it done“, sagte er und wir gaben uns die Brofist.
Er füllte ohne eine Handbewegung meine Kaffeetasse mit neuem Wein auf und zupfte sich dann kurz nachdenklich am Bart. „Sag mal... war das Leben als Bandwurm echt so ätzend?“ Ich nahm die Tasse und zuckte kurz mit den Schultern. „Letztlich war ich da ein Parasit und bin jetzt ein Parasit, aber als Bandwurm konnte ich wenigstens Sex mit mir selber haben“, sagte ich am Ende.

Ich konnte ihm verzeihen. Nach 2000 Jahren. Es war nie seine Schuld gewesen und auch nicht meine. Wie schön die Welt doch wäre, dachte ich bei mir im Stillen, wenn alle einfach mal nett zueinander wären.


Anmerkung von Judas:

Wuhu!

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Kommentare zu diesem Text

KoKa (43)
(08.12.11)
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 Judas meinte dazu am 08.12.11:
Huhu KoKa!
Danke für deinen Rat, ich werd's mir noch mal anschauen :)

 Judas antwortete darauf am 08.12.11:
Und deinen kleinen Text find ich super! *Lachträne aus'm Auge wisch*
KoKa (43) schrieb daraufhin am 08.12.11:
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 Dieter_Rotmund (09.12.11)
Nette Idee, mir aber stellenweise zu jugendsprachlich, was allzu albern wird, z.B. "Brofist".
Außerdem: Reinkarnation ist die Sache der Christen nicht. Und der "Arsch der Geschichte" ist Judas sicherlich nicht, das können andere besser...

 Judas äußerte darauf am 09.12.11:
Ich weiß, dass Reinkarnation keine Sache der Christen ist. Das ist ja auch der Punkt (also: einer der Punkte). Danke für den Kommentar!

 RomanTikker (17.01.12)
Ich musste echt screwglen um herauszufinden, was ein Brofist ist. Ich kannte nur Bovisten. Was auch immer du an der Geschichte geändert hast, mir gefällt sie ziemlich gut. Kann mich erinnern, sie früher schon mal gelesen zu haben und frage mich, was mich damals bloß daran gestört hat? Am Ende hat sich gar nichts Wesentliches geändert außer mein Sinn für brofistige Literatur. ;)
Kreuzweise:
R

 Judas ergänzte dazu am 17.01.12:
Dankeschön werter Herr Tikker!
Aber ich verrate Ihnen ein Geheimnis, mein Herr: nichts hab' ich geändert :)

 RomanTikker meinte dazu am 17.01.12:
Oh! Jetzt, wo du's sagst - mir dünkte, ich hätte vorhin so ein "zuletzt geändert am" gesehen. Und ja, jetzt erinnere ich mich: Ich hatte im Dezember mal reingelesen und ein gründliches Studieren auf später verschoben. Wahrscheinlich im Drogenrausch, so war's. ;0) Schieb's auf's Alter! Und ich wollte dir ein Bild schicken, das ich durch Zufall entdeckt hatte. Mach ich jetzt. Na dann also herzlichen Glückwunsch für den gelungenen ersten Take! Herr E. Tikker

 SunnySchwanbeck (27.06.12)
vielleicht nenne ich mein nächstes meerschweinchen judas.

und: ich les' dich gern. du hast es drauf, oh my god!

 Judas meinte dazu am 27.06.12:
Woopwoopwoop! :)

 Rudolf (05.08.12)
Ich hatte das Glück, den Text von der Autorin selbst auf dem Jahrestreffen vorgelesen zu bekommen. 10 von 10 Punkten und ein Sternchen.

 Judas meinte dazu am 05.08.12:
*rot werd* Danke Rudolf :)

 Dieter Wal (25.01.13)
Judas mit Brüsten wäre nicht wirklich für Jesus ein Problem. War eher Frauenversteher. Finde diese Story sehr nett geschrieben. Die Judas-Figur wurde, soweit mir bekannt, besonders interessant literarisch in Nikos Kazantzakis "Die letzte Versuchung" bearbeitet. Erhielt auch eine super Verfilmung. Das Buch finde ich definitiv lesenswert. Theologisch relevante Dinge über Judas finden sich auch kurz gefasst und anschaulich bei Pinchas Lapide. Aber die brauchst du nicht zwecks Erkenntnisgewinn lesen, denn dein Text sagt in etwa dasselbe über Judas aus. Die Begegnungs-Szene auf der Toilette gefällt mir. Auch deine Hippie-Stilisierung hat was. Bei mir ähnlich in "Vater und Sohn".

Für mich hat deine Story keine Längen. Unterhaltsam, witzig, originell, geistreich, anschaulich und spannend. Aber was sind Brofist?
(Kommentar korrigiert am 25.01.2013)

 Judas meinte dazu am 25.01.13:
Die Brofist ist noch aus einem Poetry Slam, bei dem ich den Text vorgelesenund die Geste auch gemacht habe, hängen geblieben. Verdammte Jugendsprache ;) Das ist 'ne Brofist: wenn man die Knöchel der Fäuste gegen einander klopft. So wie ein Handschlag, nur eben nicht mit der Handfläche sondern eben der Faust. Kommt vom englischen Brother und Fist.

Danke für Sternchen und vorallem deinen Kommentar :) *freufreu*

 Dieter Wal meinte dazu am 25.01.13:
*beeindrucktguck* Danke!

 Dieter Wal meinte dazu am 06.07.15:
Immer noch mein Judas-Lieblingstext. Den bitte in deinem ersten Buch. Bitte mit Widmung!

 Judas meinte dazu am 06.07.15:
Danke :) Der Text kommt auch auf jeder Lesung sehr gut an. z.B. vor 800 Leuten beim Thüringen Meisterschafts Poetry Slam. 43/50 Puplikumspunkte. :)

 Dieter Wal meinte dazu am 17.05.17:
Hach!

 Judas meinte dazu am 17.05.17:
Letztens wieder ’nen Slam damit gewonnen. Gab ’ne Flasche Weißwein - hat sich also gelohnt.

 Dieter Wal meinte dazu am 30.11.18:
Jede Auszeichnung der Geschichte erkennt ihren Wert. Außer "Goldene Zitrone" und weitere satirische Anti-Preise. Ich vermute, diese Geschichte empfehle ich am häufigsten wiederholt auf kV.

 Judas meinte dazu am 30.11.18:
Ja ich merk schon ;) Danke

 Dieter Wal meinte dazu am 06.03.19:
Immer noch meine absolute Lieblingsgeschichte von dir! Lässt sie sich nicht für keinOscar einreichen?

 Judas meinte dazu am 08.03.19:
Soll ich's löschen und neu hochladen? :p

 Dieter Wal meinte dazu am 30.12.21 um 22:22:
Wenn die Story Bluebird liest, beschreibt er nur noch Schach.

 larala (10.07.13)
Haha, sehr, sehr cool!
Und mehr.
I can feel your pain.

 Judas meinte dazu am 10.07.13:
Danke und danke :)

 Dieter Wal (01.02.14)
Finde diese Geschichte immer noch hervorragend. Du könntest sie gleich zweimal in kV-Sammelprojekte einstellen: Einmal unter "Gretchenfragen und Antworten", nochmal unter "Parodien und Satiren" als Satire.
(Kommentar korrigiert am 02.02.2014)
MelodieDesWindes (36)
(02.02.14)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Dieter Wal meinte dazu am 02.02.14:
Judas hat nach den Evangelien nicht Freundschaft vorgetäuscht, sondern seinen Rabbi später "verraten und verkauft". Daher die Redewendung.

 Judas meinte dazu am 02.02.14:
@MdW In deinem Beispiel würde ich sagen: der war nie ein Freund.
Aber vielleicht hilft er mir ja mit dem Geld in die USA zu flüchten. :)

Den Text schrieb ich übrigens in dem Hintergrund, dass es Theologen gibt, welche die Theorie aufstellten, dass Judas gar kein Verräter in dem Sinne war. Als dass die Judas-Rolle eben nicht das ist, was du beschriebst. Falls dich das interessiert, ich kann's jetzt nur noch grob wieder geben: Judas gehörte wohl zu einer sehr aggressiven jüdischen Gruppierung die das römische System stürzen wollte und er dachte, wenn er das Volk gegen die Römer aufwiegeln kann, funktioniert das. Er wollte das erreichen, indem er Jesus quasi "verkauft" in der Hoffnung, dass das Volk dann auf die Barrikaden geht.
Eine andere theologische Theorie besagt, dass Jesus oder zumindest Judas wollte, dass Jesus stirbt, damit sich die Prophezeiung erfüllen kann - er starb für eure Sünden und so.
Teil der ganzen Judas-Geschichte ist ja auch, dass er das Geld wieder weg warf und sich umbrachte.

 Dieter Wal meinte dazu am 02.02.14:
@ Judas: Zeloten.

 Graeculus (17.09.22, 15:13)
Mensch, ist das gut! Jesus und Judas unterhalten sich nach 2000 Jahren, wie die Sache so gelaufen ist. Natürlich aus dem Ruder.

 Judas meinte dazu am 17.09.22 um 16:27:
Hat mir viele Poetry Slams gewonnen, damals. Danke!

 Graeculus meinte dazu am 17.09.22 um 16:47:
Glaube ich glatt. Ist wirklich sehr gut.

 Judas meinte dazu am 17.09.22 um 17:10:
Macht auch Spaß, ihn zu lesen.
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