Die Anhalterin

Erzählung zum Thema Begegnung

von  uwesch

Dieser Text ist Teil der Serie  BEGEGNUNGEN (Erzählungen, Short Stories)

Draußen kracht der Frost und in der Luft wirbeln Flocken. Der Winter strebt seinem Höhepunkt entgegen. Die Gegend, in der Erwin seit seiner Geburt wohnt, hat sich zum Ballungsraum verdichtet. Fensterlichter brennen über abgezäunten Feldern am Rande der Stadt und lassen die Häuserblöcke durchlöchert erscheinen, unregelmäßig wie ein Schweizer Käse. So kann er sehen, wo Leben geschieht und wo nicht. Die Hügel dahinter verlieren ihre Schärfe im diffusen Gemisch aus Schneeflocken und dem Beginn der Nacht. Bunte Lichter zappeln in diesem Stimmungsgemenge, Reklameschriften, Verkehrsampeln, reflektierende Schneekristalle.
Erwin fühlt sich einsam. Vor vier Monaten ging seine Beziehung wegen unüberbrückbarer Gegensätze in die Brüche. Seitdem plagen ihn häufig Herzstiche in der linken Brusthälfte. Er beschließt einen Trip mit seinem SUV in der Schneelandschaft zu machen – einfach ziellos herumfahren, holt den Wagen aus der Garage und biegt nach links in seine Wohnstraße ein. Er denkt darüber nach, wie langweilig Langeweile sein kann, ein Fragezustand, der ihn immer öfter verfolgt und nicht mehr gesteigert werden kann.
An der Bushaltestelle am Ende seiner Wohnstraße winkt ihm eine Frau zu, will ihn zum Anhalten bringen. Sie möchte ihn wahrscheinlich als Busersatz benutzen. Er überlegt kurz, denn normalerweise nimmt er keine fremden Menschen mit, entschließt sich aber anzuhalten und fragt die wohl noch recht junge Frau:
„Wo wollen Sie denn hin?“
„Ach Sie, wir haben uns doch schon öfter bei REWE im Supermarkt gesehen. Am Mittwoch dieser Woche standen Sie vor mir an der Kasse.“
„So…?“
„Ich wollte eigentlich mit dem Bus nach Waldorf und dann wieder zurück, aber am liebsten würde ich ein bisschen durch die Gegend fahren. Ich brauche etwas Ablenkung vom Stress meiner Wohngemeinschaft.“
Ach so eine, denkt Erwin.
„Na gut, steigen Sie ein. Ich bin dabei meine Langeweile zu bekämpfen und will deshalb ein bisschen herumfahren. So stimmen wir ja überein in unseren Wünschen. Wie heißen Sie denn?“
„Elvira.“
Sie atmet erleichtert aus und wirft sich in den Beifahrersitz, der schon länger nicht besessen wurde. Erwin lässt die Kupplung sanft kommen und fährt los. Sie beugt sich nach vorn, klappt die Sonnenblende herunter und betrachtet ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel. Dann fingert sie einen Lippenstift aus ihrer rechten Manteltasche und zieht ihre Lippen blassrosa nach.
Kein Benehmen diese Frau, stellt Erwin fest. Von WG-Bewohnern wohl nicht anders zu erwarten.
Gerade als Elvira sich in ihren Sitz zurücklehnt, hebt sich mit zuckenden Lichtern ein Flugzeug beim Start vom nahegelegenen Flughafen über den Wagen hinweg und zieht eine grollende Lärmschleppe hinter sich her. Beide ziehen instinktiv ihre Köpfe ein und schauen sich erschrocken an. Ein kleiner Schneesturm verschafft den Wischern zusätzliche Arbeit.
Schweigend fahren sie weiter durch eine Allee starker Eichenstämme, bis sie den nahe gelegenen Wald erreichen. Die Scheinwerfer streifen die teils weiß gefärbten Bäume in den Kurven wie aufflackernde Irrlichter. Eine unheimliche Stimmung tut sich auf. Beide genießen es ohne Worte zu wechseln. Sprächen sie jetzt, würden diese kostbaren Empfindungen wegsickern.
Plötzlich tritt Erwin heftig auf die Bremse und der SUV kommt leicht ins Schlittern, kann aber rechtzeitig stoppen, wobei der Motor abgewürgt stehen bleibt. Vor ihnen in der Straßenmitte steht ein Reh, starr und gebannt vom Scheinwerferlicht. In seinem erhobenen Kopf glimmen zwei rote Löcher. Wenige Schneeflocken taumeln zwischen den Bäumen hindurch und beleben diesen magischen Moment der Ruhe.
Nach Augenblicken des Verharrens schaltet Erwin die Scheinwerfer aus, startet den Motor und lässt ihn im Leerlauf aufheulen. Das Reh schreckt auf und verschwindet mit großen Sprüngen im Wald.
Elvira fragt:
„Haben sie vielleicht etwas Musik im Wagen?“
„Ja, schauen Sie mal ins Handschuhfach.“
Sie kramt irgendeine CD heraus und schiebt sie in den Player. Aus den Lautsprechern ertönt Klarinettenmusik, ein sanfter Gehörteppich, in den sich eine Frauenaltstimme mischt. Erwin kuppelt wieder ein und beschleunigt den Wagen. Die Straße tritt nach einigen langsam gefahrenen Kilometern aus dem Wald und wird nun von Vogelbeerbäumen begleitet. Ab und an leuchten Dolden roter Beeren im Scheinwerferlicht auf. Einzelne Blätter, die der Herbstwind zurückgelassen hat, hängen wie große vertrocknete Hautfetzen im Geäst.
Die Klimaanlage hat das Wageninnere inzwischen hochtemperiert. In Erwins Schläfen, die so dünn sind wie Papier, pocht der Puls in schnelleren Schlägen und die Langeweile ist entflogen wie der Jet beim Beginn des Fluges nach Nirgendwo.
Elvira fragt:
„Kann ich mal etwas lüften, mir ist heiß.“
Ihren Mantel hatte sie schon geöffnet.
„O.K.“
Erwin dreht den Regler der Klimaanlage auf 20 Grad und sie öffnet kurz das Seitenfenster. Auch sein Gehirn ist inzwischen heiß gelaufen und er überlegt, was er mit seinem Zustieg noch anfangen soll. In dem Moment schlägt sie vor, dass sie gern zurückfahren wolle. Sie hat ihm die Entscheidung genommen – genau wie seine Verflossene das immer tat.
Von rechts nähert sich die Schneise der Autobahn, Lichtstreifen, die weiterstiebende Schneepartikel wie Silvestermunition verschießen. Er fädelt sich ein, gibt Gas auf der weitgehend schneefreien Piste und nimmt nach zehn Schweigeminuten die zweite Abfahrt. Schilder geben jetzt die Geschwindigkeit vor, die er zu beachten hat. Nach drei Kilometern öffnet sich seine Wohnstraße. Elvira bittet ihn an derselben Stelle anzuhalten, an der er sie aufgenommen hat. Beim Abschied gibt sie ihm einen kräftigen Kuss auf die rechte Wange und bedankt sich herzlich für die schöne Fahrt. Die Beifahrertür, die er in der letzten Zeit nur geöffnet hatte, wenn er Gepäckgegenstände auf dem Sitz deponierte, schlägt zu und er zuckelt langsam in Richtung Garage. Seine Herzstiche sind wie weggeblasen.
Erwin betritt sein Wohnzimmer mit einer Flasche Rotwein. Der Raum kommt ihm jetzt vor wie eine mathematische Gleichung. Alles stimmt, wie seine Verflossene sich das ausgedacht hatte. Er denkt, dass er ja auch mal was ändern könnte. Im Sessel angekommen schenkt er sich wie jeden Abend ein Glas ein und grübelt: Wie hat meine Beifahrerin eigentlich ausgesehen? Er kann sie nicht beschreiben. Nur der Umstand, dass sie einen Kopf größer war als er und ein irgendwie freundliches Gesicht hatte, blieb vage in ihm haften. An diese Stelle tritt nach kurzer Zeit ein anderes Gesicht, ein zorniges und weiter entferntes.



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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (30.09.23, 11:42)
bieten sich gelegenheiten
sollt' man(n) dann zur tat wohl schreiten? lg vom harzer

 uwesch meinte dazu am 30.09.23 um 12:48:
Das gilt zumindest für die guten Gelegenheiten, wenn sie denn realisierbar sind.
Dank Dir für Kommi und Belobigungen. LG Uwe

 Gabyi antwortete darauf am 30.09.23 um 18:35:
Gefällt mir gut, der Text. Erinnert mich an meine Studentenzeit, als ich häufig (auch durch die DDR) getrampt bin. Manchmal hatte ich auch keine Lust, zu reden.

 uwesch schrieb daraufhin am 30.09.23 um 19:32:
Am besten ließ es sich für mich in Großbritannien trampen. Da wurde man gern mitgenommen. Jetzt bin ich aus dem Alter raus 
Dank Dir für Kommi und Empfehlung. LG Uwe

 Gabyi äußerte darauf am 30.09.23 um 20:31:
Ich hatte auch so meine speziellen Erlebnisse beim Trampen. Ich konnte aber jedesmal irgendwie entkommen. In der DDR ging es auf keinen Fall, angemacht zu werden, man stand unter staatlicher Beobachtung. Nur einmal wollte ein Lastwagenfahrer was von mir, da waren wir aber schon in Berlin. Er warf mich dann mitten in der Nacht raus und ich musste zu Fuß nach Hause laufen. Vom Theodor-Heuß-Platz nach Schöneberg.
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