Der unsichtbare Schatten

Kurzgeschichte zum Thema Tod

von  Saira

Es war Zeit.

 

Er ging über die Grenze, nahm sein Dasein an und hüllte sich in seinen grauen Schatten. Die Menschenmasse flog wie ein Vogelschwarm im Herbst an ihm vorbei - einzelne Kreaturen, die ihrem Ruf folgten, so wie er dem seinen folgen musste.

 

Sie sahen ihn nicht.

 

Die Stadt lag unter der hereinbrechenden Dunkelheit. Sie erhellte sich mit künstlichem Tag und allerlei bunten Lichterspielereien.

 

Er kannte sich aus. Sein Weg führte ihn oft in diese Straße, in der die Zeit seit Jahren still zu stehen schien.

 

Die Symphonie aus leisem und lautem Stimmengewirr, dem Aufheulen startender Autos an Ampeln, dem gleichmäßig vibrierenden Dröhnen von schweren Dieselmotoren und den quietschenden Straßenbahnrädern wurde in Sekundenabständen immer wieder neu geschrieben. Grelle Neonreklamen riefen die Menschen zum Konsum und zur Völlerei auf und saugten sie schmatzend ein.

 

Er huschte an einem älteren Paar vorbei, das in seine Zukunft schaute. Hinter einer dezent beleuchteten Scheibe waren blankpolierte schwarze und braune Särge ausgestellt, die mit aufgeklebten Zeigefingern auf das befristete Sonderangebotspaket zur schnellen Entscheidung rieten. Im dreckigen Münzwaschsalon nebenan stritten zwei junge Burschen um eine Marke. Ihre Hunde machten es sich auf den ausgesessenen Bänken gemütlich, nachdem sie in einer Ecke ihre verdauten Mahlzeiten abgelegt hatten.

 

Der Zeitungskiosk war geschlossen, aber die toten Schlagzeilen vom Morgen brüllten die Vorbeikommenden noch immer an.

 

Ein alkoholisierter Obdachloser wurde gerade von uniformierten Männern abgeführt und an den Stadtrand verbracht. Er hatte es gewagt, gegenüber vom eleganten Schuhgeschäft an einem zum Abholzen gekennzeichneten Baum zu sitzen und still mit geöffneter Hand um milde Gaben zu bitten. Der Geschäftsführer des Schuhgeschäftes bedankte sich höflich und schimpfte auf diese Gestalten, die das Bild der Straße und die Umsätze schädigten.

 

Aus der Kiezkneipe drang eine dicke Rauchwolke und der Geruch von Hopfen. Der Hopfengeruch verband sich mit dem Gestank von altem Fett, der aus der triefenden Imbissbude herüberschwebte, die ein paar Meter neben dem Baum stand, an dem eben noch der Obdachlose die Hand aufgehalten hatte.

 

Zwei Huren redeten auf einen schwitzenden Mann ein, der mit hochgerötetem Gesicht verstohlen in seine Geldbörse starrte, während eine andere vor der Pforte zur kurzweiligen Glückseligkeit ihre unübersehbaren Reize für ein paar Kröten zum Ausleihen anpries.

 

Er hielt seinen Schatten an. Er war fast am Ziel.

 

Ein blinder, zerzauster Straßenhund, dem die Gabe des Sehens gegeben war, schnüffelte neugierig an der erdigen Hand des Schattens und hetzte dann heulend davon.

 

Eine gebeugte Frau stellte sich ihm in den Weg und blickte ihn aus alten, wässrigen Augen flehend an. Sie konnte ihn schon durch seinen Schatten ahnen. Doch sie musste die faltigen Schmerzen noch eine Weile tragen. Sein Auftrag führte ihn weiter.

 

Obwohl zeitlos, nahm er die Zeit wahr, wie das Atmen der eilenden Endlichkeiten, den Lärm und das Flüstern. Aber er spürte weder Hitze, noch Kälte, weder Trauer, noch Freude – und doch wusste er davon.

 

An der Ecke stand ein Mann, der ihn nicht erwartete. Er lehnte neben der Eingangstür einer heruntergekommenen Mietskaserne an der Mauer und versuchte das Schwanken seines schwer kontrollierbaren Körpers einzudämmen, indem er seinen Rücken gegen die Wand presste. Mit unsicheren Bewegungen führte er die Flasche mit dem Fusel an den Mund und trank seinen letzten Schluck.

 

 

©Sigrun Al-Badri/ 2024



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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (24.01.24, 06:56)
Sein Dasein anzunehmen, indem man sich in seinen eigenen Schatten kleidet, ist ein zutiefst anregender Gedanke.
Mir fällt dazu augenblicklich Peter Schlemihls wundersame Geschichte ein (Adelbert von Chamisso), die sich dem Thema auf andere Weise nähert.

Das Böse dominiert so manche Existenz. Und vielerorts.

Dir ist auf eigenwillige Weise ebenfalls ein Kunstmärchen gelungen.

Liebe Grüße
Heidrun

 Saira meinte dazu am 24.01.24 um 17:16:
Liebe Heidrun,
 
dein Vergleich mit Peter Schlemihls wundersame Geschichte ehrt mich. Peter Schlemihl, der seinen Schatten gegen ein Säckchen Gold mit dem Teufel tauscht. Tragisch und lehrreich.
 
Ich habe mich noch nie wirklich mit dem Begriff „Kunstmärchen“ befasst. Heute habe ich, dank dir, wieder dazulernen dürfen.
 
Herzlichst
Sigi

 Teo (24.01.24, 14:15)
Mh....nun ja, du beschreibst präzise und schonungslos. Jetzt bin ich ja nich so schlau wie unser Zwerch...der hat das alles verstanden. Dein exaktes und lückenloses Skizzen zieht mich aber doch in den Bann.
Ich muss mich mit Text aber noch mal beschäftigen.
Grübelnde Grüße 
Teo

 Saira antwortete darauf am 24.01.24 um 17:17:
Lieber Teo,
 
es wäre toll, wenn du tatsächlich noch einmal in die Geschichte eintauchen und dem Schatten folgen magst. Ganz bestimmt wirst du dann die Aufgabe des Schattens erkennen.
 
Ich freue mich, dass dich mein Text in den Bann ziehen konnte.
 
Liebe Grüße
Sigi

 plotzn (25.01.24, 09:10)
Servus Sigi,

ist da nicht Freund Hein unterwegs, der seinen nächsten Gast zu sich heinholt, ähm heimholt?

So einladend, wie Du die Gegend beschrieben hast, wird er da in nächster Zeit noch öfter vorbeischauen...

Liebe Grüße
Stefan

 Saira schrieb daraufhin am 25.01.24 um 14:02:
Moin Stefan,

ja, der Hein, der Schattenmann, der holt, wen er so kriegen kann. :dizzy:

Ich hoffe, du hältst dich zur Zeit woanders auf!

Liebe Grüße
Sigi
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