Glühwein-Episoden

Text zum Thema Weihnachtsgeschichte

von  Bellis

Meine Freundin und ich haben eine Tradition. Seit drei Jahren zwar erst, aber mit dem festen Vorsatz, unser jährliches Treffen auf dem Weihnachtsmarkt fortzusetzen, kann man schon von einer Tradition sprechen.
Egal, wie hektisch die Vorweihnachtszeit also ist: Wir treffen uns wenigstens für einen Abend auf dem Weihnachtsmarkt, um gemeinsam Glühwein zu schlürfen, über das vergangene Jahr und unsere Wünsche für das kommende Jahr zu plaudern und um Menschen zu beobachten. Dabei entdecken wir immer irgendetwas (oder irgendjemanden) besonderes.

Im vorletzten Jahr konnten wir zum Beispiel von unserem Lieblingsglühweinstand aus erstmals beobachten, welche Gefährte des kleinen Kinderkarussells besonders oft frequentiert wurden und welche richtig unbeliebt waren. (Die darauffolgenden Weihnachtsmarktbesuche bestätigten diese Statistik.)
Beliebt sind – trotz verfassungsrechtlich verordneter Gleichberechtigung – alle Arten von Autos und Motorrädern überwiegend bei den Jungs und die klassischen Pferdchen hauptsächlich bei den Mädchen. Vorausgesetzt, es gibt keine Dinosaurier, die mögen alle Kids.
Völlig links liegen gelassen wird jedoch, obwohl technisch hoch anspruchsvoll (also eigentlich cool!), die Feuerwehr. Trotzdem sie das auffälligste Fahrzeug auf dem Karussell ist, mit Leiter auf dem Dach sogar das größte und mit Glocke am Fahrerfenster das lauteste, wird sie von allen Kindern gemieden. Schuld daran ist der Weihnachtsmann, der oben auf der Leiter liegt. (Die liegende Position deshalb, weil die auf das Dach abgelegte Leiter aus dem Klettern des Weihnachtsfeuerwehrmannes ein gemütliches Bauchliegen macht.)
Wenn die Feuerwehr auf dem Karussell ihre Runden dreht, dann hoppelt der Weihnachtsmann auf seinem Bauch und schubbert sich an der Leiter... Ich weiß nicht, ob´s an der Hoppelei liegt oder am grimmigen Gesicht des roten Mannes, das genau über dem Fahrerhaus der Feuerwehr schwebt... Jedenfalls wird die Feuerwehr ignoriert – auch unsere engagierten Versuche nach dem dritten Glühwein, die vor dem Karussell wartenden Kids mit plausiblen Argumenten (das schicke Lenkrad! die große Leiter! die laute Glocke! der ECHTE Weihnachtsmann!!) von der Coolness des Fahrzeugs zu überzeugen, scheiterten. Und so dreht der schubbernde Weihnachtsmann weiter einsam seine Runden...

Im letzten Jahr beschlossen meine Freundin und ich, nach dem Glühwein noch ein bisschen um den Weihnachtsmarkt herum zu spazieren. Dabei kamen wir am Marktschlösschen vorbei, einem kleinen Patrizierhaus, das als Galerie genutzt wird.
Wir lugten auf den winzigen Innenhof hinter dem Haus und freuten uns über die weihnachtlich-romantischen Laternen über dem Torbogen – da hörten wir eine Frauenstimme: „Hallo? Hallooo? Haaaalloooo!“ Wir standen regungslos und versuchten, die Stimme zu orten. Es war unheimlich, denn an den Fenstern zum Hof war niemand zu sehen.
„Hallooo? Haaaalloo!“ Die Ruferin schien zwischendurch auch zu lauschen. “Hallooo!” Gab es einen Geist im Schlösschen? Einen neuen profitablen Besuchermagneten für unsere Stadt? “Halloo-hoo!” Oder hatte sich die Stadtverwaltung etwas einfallen lassen, eine Art Überwachungssystem mit Lautsprecher, um ungebeten herumschnüffelnde Neugierige wie uns zu erschrecken?
“Haaallooo!” Mutig machte ich ein paar Schritte vorwärts und entdeckte hinter einem Erkerchen noch ein Fensterchen, aus dem eine Frau lehnte. „Na, gottseidank, habe ich mich doch nicht getäuscht, da war doch jemand...“ Es stellte sich heraus, dass die Gute die in der Galerie beschäftigte Putzfrau war, die ihren Schlüssel vergessen hatte und vom Wachschutz versehentlich eingesperrt worden war. Hilfsbereit eilten wir zum Magistratsgebäude, trafen auch Kollegen des Wachschutzes an, die sogleich die Befreiung der Putzfrau in die Wege leiteten.
Ob der Schließbefugte (die Schlüsselfigur!) jedoch ohne Glühweinumwege zum Schlösschen geeilt ist und die Frau noch vor Mitternacht ihren wohlverdienten Feierabend erhielt, kann ich leider nicht sagen.

Das schönste unserer Weihnachtsmarkterlebnisse hatten wir jedoch in diesem Jahr. Unser Lieblingsglühweinstand befand sich dieses Mal gegenüber von einer dieser Fressbuden, die sich „Futtern wie bei Muttern“ nennt – „allerlei Gutes aus Topf und Pfanne“! Der Geruch aus diesen Pfannen lockte denn auch allerlei Leute an.
So auch einen ziemlich zerlumpt aussehenden älteren Mann, einen Obdachlosen, der einen großen Jägerrucksack trug. Nachdem er sich etwas zu essen besorgt hatte, etwas mit viel Fleisch, so schien´s, stellte er sich an einen der runden Stehtische, seinen Rucksack darunter und seinen Teller auf den Tisch. Dann öffnete er den Rucksack, weitete die Öffnung sorgfältig, richtete sich wieder auf und begann zu essen.
Wir verstanden nicht, was diese Handlung bedeuten sollte... da erschienen in der Rucksacköffnung zwei lange weiße Ohren – und allmählich krabbelte ein großes schneeweißes Kaninchen aus dem Rucksack! Harvey persönlich! Der Hase kletterte gemächlich heraus und begann, das Betonpflaster rund um den Tisch gründlich abzuschnuppern. Er fand ein Stück Brötchen, knabberte daran, schnupperte weiter, entfernte sich aber nie weiter als einen Meter von den Füßen seines Obdachgebenden.
Wir – und alle Leute um uns herum – schauten sprachlos diese Szene an, unentschlossen, ob wir glauben sollen, was wir sehen, oder ob wir dem Glühwein die Schuld an dieser Erscheinung geben sollten.
Nachdem der Mann aufgegessen hatte, beugte er sich zu seinem Rucksack hinunter. Auf dieses stille Kommando reagierte der weiße Hase sofort: Er sprang leichtfüßig in den Rucksack hinein, wo er sich so hinsetzte, dass er oben aus der Öffnung herausschaute, während seine Vorderpfoten auf dem Rand lagen. Der Mann schnürte deshalb auch den Rucksack nicht ganz zu, sondern setzte ihn halboffen auf seinen Rücken, so dass der Hase in die Menschengesichter um ihn herum blicken konnte - und so verschwanden sie beide in der Menge, Hase und Mann, verzaubert angestaunt und nicht so schnell vergessen.

Jetzt bin ich wirklich gespannt, was wir im nächsten Jahr beim Glühweintrinken erleben werden.

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Kommentare zu diesem Text

LudwigJanssen (54)
(12.12.08)
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 Bellis meinte dazu am 12.12.08:
Ey, Lüdwüg, wieviel Glühwün hast Dü denn schon getrünken? ;o)
LudwigJanssen (54) antwortete darauf am 12.12.08:
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 Bellis schrieb daraufhin am 12.12.08:
Du meinst knülle.
LudwigJanssen (54) äußerte darauf am 12.12.08:
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