andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Samstag, 15. Oktober 2005, 18:08
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Karten auf den Tisch!

Die Fahrt von Dresden nach Hause war nicht langweilig. Aus dem Radio plärrte ein gruseliges Jingle und dann zwei Stimmen, deren Unterton sehr laut schrie: „Wir sind überall sonst gescheitert.“
Scheußliche Versuche einen getragenen und pathetischen Klang in die Sätze zu pflanzen, aufgesetzte Fröhlichkeit, die Schauer über den Rücken laufen ließ und eine gestelzte Sprache, die Kompetenz ausstrahlen sollte, aber nur Widerwillen erzeugte.
Leider fand das Radio keinen anderen Sender mit Verkehrsdurchsage...

„Worüber sollen Ihnen die Karten denn Auskunft geben?“ entlarvt sich schon die Eingangsfrage. „Liegt Ihnen etwas besonders am Herzen?“
„Ich... ich möchte wissen, ob... ob es mit mir und meinem Mann... Also, ob es wieder was wird, verstehen Sie?“ antwortet eine unsichere, leicht stotternde Frauenstimme.
„Das müssten wir schon etwas genauer wissen...“ kommt es dreist zurück. (Warum fragen sie nicht gleich: „Was möchten Sie denn von uns erzählt bekommen?“)
„Also mein Mann und ich... wir streiten uns häufig.“ – Die Frau gibt sehr bereitwillig Auskunft.
„Und worüber streiten sie sich?“
„Immer so... Kleinigkeiten... Dass ich nicht aufgeräumt habe... sein Lieblingshemd schmutzig ist...“ – Zittern in jedem Wort.
„Und wie lange geht das schon so?“
„So... so seit einem Jahr oder so... seit er arbeitslos ist, glaube ich.“ Die Stimme klingt angestrengt, gehetzt.
„Und Sie? Arbeiten Sie?“
„Als Verkäuferin, ja. – Aber das mache ich schon länger... schon zehn Jahre... Daran hat er sich nie gestört.“
Offensichtlich meint die Frau das wirklich ernst.
Ich schaue auf die Hinweisschilder, um mich zu orientieren. Wo bin ich? Tiefstes Bayern? Saudi-Arabien? Irgendwo in Anatolien? – Nein! In der Nähe von Weimar. - Na klasse. Galt es hier nicht vor 16 Jahren als völlig normal, dass die Frauen arbeiteten? Wie schnell sich doch die Zeiten ändern. Jetzt muss extra betont werden, wie “tolerant“ ihr Mann ist...
„Na dann wollen wir doch mal sehen, was die Karten sagen...“ mischt sich eine tiefere Frauenstimme ein. - Schlimmste Befürchtungen boxen sich in meinem Hirn mit hoffnungsvoller Neugier. Die Schadenfreude schaut vom Rand des Ringes zu und wartet gespannt auf das Kommende.
„So... hier steht es sehr deutlich. Viel Arbeit wartet auf Sie. Eine Zeit lang werden die Spannungen noch weiter gehen, aber wenn Sie sich anstrengen, dann wird sich alles zum Guten wenden.“
Dazu fällt nicht einmal der Schadenfreude etwas anderes ein als sich zu schämen. Wo bin ich? Wann bin ich? 2005 in der Nähe von Weimar? – Näää, kann nicht sein...

Trotzdem bleibt das Radio an. Die Hoffnung stirbt zuletzt, heißt es doch. – Und wirklich, zwei Anruferinnen später...
„Die Karten sprechen von Veränderungen. Sie werden einen Menschen, an dem Sie hängen, verlieren - und Sie dürfen ihn nicht wieder aufnehmen. Er bringt Ihnen kein Glück. - Sie müssen Ihr Leben neu gestalten und dann... ja, ich sehe es ganz deutlich: Jemand Neues wird in Ihr Leben treten...“

Hey. Wer sagt’s denn! – Da wird ja doch mal ein vernünftiger Tipp gegeben, zu Selbstbehauptung, Würde und Selbstachtung aufgerufen.
Allerdings ist meine Begeisterung etwas getrübt. Wie hatte die hilfesuchende Frau noch gesagt? Ihr sogenannter Freund wohnt seit zwei Jahren mit einer Anderen zusammen? Mit gemeinsamen Kind? Meldet sich seit Monaten nicht? Lässt sich bei Anrufen verleugnen? – Wie schwer fällt da ein entsprechender Rat?

Interessieren würde mich, wie die Kartenlegerin bei einer Witwe oder einem Witwer reagiert. Ich denke es würde heißen: „Für Ihre Beziehung sehe ich keine großen Zukunftsaussichten...“

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Nicht registrierter Nutzermouze (27.10.05)
..gut geschrieben, gefällt mir..und inhaltlich..hm..ich hätt´ja gelacht..ist mir aber im hals stecken geblieben..aber wie du so schön sagst..die hoffnung stirbt zuletzt..glaub ich..oder?

 ViolaKunterbunt (27.10.05)
Ja, das ist wieder klasse geschrieben und Wahrsager sind wirklich was Tolles. Da kann man Dinge erfahren, die wusste man vorher mit ein wenig gesundem Menschenverstand auch schon selber.
Sehr schön... und ansonsten... hoffentlich seid Ihr bald mal wieder richtig hier und nicht nur in Form vor-Wochen-vorgeschriebener-Kolumnen. Liebe Grüße, Viola
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