andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Mittwoch, 25. Januar 2006, 23:28
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sinnig

Das Unwort des Jahres 2005 ist gekürt – und diesmal bin ich begeistert. Schon das “Humankapital“ von 2004 hatte mir gefallen, da es deutlich zeigt, wo wir stehen. Aber der Sieger von 2005 ist eine noch viel interessantere Wortschöpfung:

Entlassungsproduktivität

Zergeht es nicht wunderbar auf der Zunge? Hüpft es nicht zart von einem Neuronen zum nächsten, umspielt sanft die Synapsen und befeuert den Ofen der Assoziationen? – Als Fan des Wortsinns erlese ich die herrlichsten Sachen daraus. Wieder einmal gibt ein benutztes Wort auch gleich Einblick in die Denkabläufe.
“Produktiv“, es bedeutet doch: ein Produkt zu erzeugen, fruchtbar, ergiebig oder schöpferisch zu sein. Nur wird in diesem Zusammenhang kaum jemand an die letzten drei Bedeutungen denken, oder?
Es geht also um ein Produkt – und da “erzeugen“ eine direkte Handlung ist (in diesem Fall “entlassen“), muss das angestrebte Ergebnis die Erhöhung der Arbeitslosenzahl sein (und nicht die Senkung der Lohnkosten oder die Verringerung der Belegschaftszahl – ansonsten würde es doch so genannt werden!). Das mag jetzt kleinkariert klingen, aber ein Produkt ist nun einmal das Ergebnis einer Erhöhung; in der Mathematik das Ergebnis einer Multiplikation. Das Ergebnis einer Verringerung hingegen ist die Differenz oder der Quotient. Hört sich nicht so schön an, “Produktivität“ hingegen ist positiv besetzt, geradezu schöpferisch. Allein die Wortbenutzung zeigt also schon, dass damit etwas Gutes gemeint ist. Na toll.
Schon immer wurde in diesem Bereich mit Worten gespielt, um auch ja die richtigen Gefühle zu vermitteln. Das beste Beispiel dafür sind die Begriffe “Arbeitgeber“ und “Arbeitnehmer“. Wer stellt denn die eigene Arbeitsleistung zur Verfügung und bekommt dafür Geld (und schafft den paradoxen Spagat gleichzeitig Lohn- und Arbeitnehmer zu sein)?
“Geben ist seliger denn Nehmen“, darum diese absichtliche Verdrehung des Wortsinns.

Letztlich gewöhnen wir uns an Alles. Wir benutzen Worte ohne nachzudenken und spüren die Empfindungen nicht mehr, die sie trotzdem auslösen (ein klassischer Werbetrick). Dagegen sind Argumente, die uns ständig vorgebetet werden, geradezu harmlos. Sie kippen schnell, Worte haben Bestand.
Nehmen wir etwa dieses Zitat von unserem Umweltminister Gabriel: „... Es ist doch abenteuerlich, dass wir in der deutschen Industrie mehr als 50 Prozent Material- und Energiekosten haben und nur 20 Prozent Lohnkosten. Aber permanent wird darüber nachgedacht, wie man Leute arbeitslos machen kann, um die Kosten der Produktion zu senken ...“ (SPIEGEL Nr. 3 vom 16.1.2006, S. 38) – Nach so einer Aussage betrachte ich die Argumente der Wirtschaft sofort kritischer, aber das Wort “Entlassungsproduktivität“ behält seinen leicht schöpferischen Klang. Vielleicht sollte dem das Unwort des zwanzigsten Jahrhunderts zugesellt werden: Menschenmaterial.

Noch immer skeptisch? Noch immer der Meinung, dass niemand absichtlich auf die Wirkung eines Wortes setzt? – Nun ... Schon gehört, welches Unwort die Düsseldorfer Börse gekürt hat, weil es so negativ besetzt sei?
Die Börsianer möchten, dass ausländische Investoren nicht mehr “Heuschrecken“ genannt werden. Recht haben sie, Heuschrecken sind nicht entlassungsproduktiv.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

wortverdreher (36)
(27.01.06)
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