andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 02. Februar 2006, 16:51
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echt affig

Menschen und Schimpansen sind Vettern, heißt es (Basen wäre vielleicht passender...). Zu 99 % sollen wir identisch sein, was viele Menschen erschreckt. Oder es wird in Frage gestellt, weil es nicht einmal Ansatzweise die eigenen Erfahrungen widerspiegelt. Wären zwei Gebäude, die zu 99 % identisch sind, nicht zum Verwechseln ähnlich? Oder Autos? Oder Möbelstücke (zwei Tische etwa)? Oder um etwas Komplexes zu nennen: zwei Städte? – Oje! Das kann doch gar nicht stimmen, wo ich mich doch schon von meinem doofen Nachbarn stärker unterscheide. Oder?
Kein Wunder, dass die religiös motivierte Fraktion so erfolgreich dagegen wettern kann. Und für die kritischeren Denker gibt es neuerdings die Kreationisten, die die fraglos bewiesene Evolution viel angenehmer erklären. Schon hängt das Weltbild wieder gerade an der Wand.
Dummerweise ist dieser genetische Kram aber nicht tot zu reden. Immer wieder kommen ähnliche Meldungen in die Presse. Manch einer kommt sich bestimmt schon wie Loriot in dem Sketch mit dem schief hängendem Bild vor. Man rückt und rückt, schiebt hier, zieht dort und dann fällt das Ding von der Wand (und die ganze Wohnung ist das reinste Chaos).

Vielleicht kann GOOGLE helfen, denke ich mir. Das Internet ist doch so aktuell und voller Informationen ...
Stunden später bin ich erschrocken. Wissenschaftliche Berichte habe ich vergebens gesucht, Tabellen, Zahlen, Daten: nichts. Nur Pressemitteilungen, recht vage zumeist und – ach du Schande – widersprüchlich. Da wird mit Zahlen ohne Bezugssystem herum geworfen, fehlerhaft zitiert, falsch interpretiert und sehr oft gepredigt. Rund 70 % der gefundenen Seiten argumentieren antidarwinistisch, 20 % haben mit dem Thema nur am Rande zu tun und der schäbige Rest ist kaum zu gebrauchen. Kein Wunder, dass so viele Leute ratlos sind.
Also versuche ich es mal.
Nach den Ergebnissen des “Chimpanzee-Genome-Sequeneing-Projekts“ unterscheiden sich die DNS-Basenpaare von Mensch und Schimpanse nur um 1,23 %. Das hört sich wenig an, liegt aber in einer Größenordnung von vierzig Millionen (von 3,2 Mrd.). Das wiederum hört sich groß an, sagt aber eigentlich nicht viel, da ein verändertes Basenpaar keine Funktionseränderung in einem Gen bewirken muss, ja nicht einmal gesagt werden kann, ob es nicht auf einer untätigen Stelle sitzt. Immerhin wird bei einem Gen von (durchschnittlich) 100.000 Basenpaaren ausgegangen.
Um die Sache noch eine Spur komplizierter zu machen, besitzen weder alle Menschen, noch alle Schimpansen identische Basenpaare innerhalb ihrer Art (sonst sähen wir ja alle gleich aus). Dieser Unterschied (Variabilität) liegt beim Menschen in der Größenordnung von 0,3 %, was die 1,23 % zum Schimpansen sehr nahe rücken lässt. Also doch sehr verwandt?
Mit Zahlen lässt sich so schön spielen. Vergleichen wir etwa zwei Schimpansen, so liegen sie ungefähr 1,2 % auseinander. Gemessen an den 1,23 % zum Menschen könnte also von einer Schimpansen-Unterart gesprochen werden; genetisch betrachtet.
Spiele ich gar mit den Geschlechtern, so zeigt sich, dass Schimpansen- und Menschenfrauen näher verwandt sind, als mit den eigenen Männern (wegen dem X-Chromosom, das mehr als drei Mal so groß ist wie das Y-Chromosom). – Vermutlich haben viele Frauen längst damit gerechnet.
Aber auch Frauen können so in die Pfanne gehauen werden: betrachten wir das Bandernmuster des X-Chromosoms, so ist praktisch kein Unterschied zum X-Chromosom der Orang-Utans auszumachen. Es liegen also weitgehend die gleichen Gene vor, was einigen Männern ein “ach deshalb“ entlocken wird.
Nutzen diese Spielereien etwas?
Wenigstens zeigen sie, dass Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten nicht ohne die Zusammenhänge gesehen werden können. Mit keinem Wort wurden die Arbeitsunterschiede der Schimpansen- und Menschengene erwähnt – und es macht einen riesigen Unterschied, wie stark oder lange ein Gen arbeitet (bei einem Hund schauen wir doch auch darauf, ob die Rute nur leise zuckt oder wild wedelt), ob es in Verbindung mit anderen Genen vielleicht etwas völlig Neues schafft oder oder oder ... So liegt allein der Aktivitätsunterschied der Gene im Gewebe (nach MPI-Leipzig) zwischen Mensch und Schimpansen bei 8 %, im Hoden sogar bei 32 % (liegen die größten Unterschiede vielleicht gar nicht im Hirn, sondern zwischen den Beinen?).

Es ist schon seltsam, denn die eigentlichen Erkenntnisse aus den Untersuchungen werden nur ganz selten mit den Zahlen veröffentlicht. Niemand will darin Verwandtschaft mit Ähnlichkeit gleichsetzen oder die menschliche Art verunglimpfen (habe ich wirklich so gelesen). Vielmehr kann durch den genetischen Unterschied viel besser der Zeitpunkt bestimmt werden, an dem sich die Vorfahren von Schimpanse und Mensch getrennt haben, um eigene Arten zu werden. Aber vielleicht hat diese Verschleierung ja auch System, würde doch ansonsten die nebulöse Schöpfungsmähr einen weiteren Dämpfer bekommen. Und wen interessiert schon, was vor sechs Millionen Jahren wirklich passiert ist?


 Entstehung

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Nicht registrierter Nutzerernstlich (02.02.06)
Eine mir sehr sympathische Gruppe der Affensippe beschäftigt sich mit Schreiben. Das ist aus der Kolumne nicht hervorgegangen, sollte doch aber wenigstens erwähnt werden. Aber dann wärs noch länger -ernstlich-
Sektfrühstück (41)
(03.02.06)
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 KopfEB (06.02.06)
Ein durchaus gelungener und inhaltlich korrekter Beitrag zu einem scheinbar sensiblen Thema.

Im Grunde hattest du schon im Anfang die Antwort. Zwei Städte, die sich zu 99% gleichen werden immer noch von unterschiedlichen Menschen bevölkert.

 KopfEB (10.02.06)
Oder, um es noch einmal geschickter und mit mehr Zeit auszudrücken:
Jetzt, wo wir den Human-Genom-Code entschlüsselt haben, ist es in etwa so, als wenn wir die Zahlen von 0 bis 9 kennen, aber nicht den blassesten Schimmer von Plus oder Minus haben, geschweige denn von solch komplizierten Dingen wie Mal, Geteilt, Wurzel, Potenz oder Logarithmusfunktionen. Und wer glaubt mir Plus und Minus würde man in der Biologie hinkommen, hat schlicht keine Ahnung.
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