andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Freitag, 19. Mai 2006, 14:20
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Nerviges

Nun ist es raus: Depressionen sind nervtötend. Ich hab’s schon immer gewusst!
Übermäßiger Stress ist übrigens auch nervtötend, genauso wie Alkohol, Nikotin und schwache soziale Kontakte. Bei Letzterem war ich mir - ehrlich gesagt - nie sicher. Aber wenn die Wissenschaftler das herausgefunden haben, wird es schon stimmen.
Nervtötend ist allerdings durchaus wörtlich gemeint und nicht im übertragenen Sinne. Die Nerven sterben ab – und was viel gefährlicher ist: es werden weniger neue Nervenzellen gebildet. Denn da liegt die eigentliche Revolution bei den Forschern, die jahrzentelang unter dem Dogma lebten, dass sich bei einem erwachsenen Menschen keine neuen Nervenzellen im Gehirn bilden. War schon nervig ... oder eher: nicht nervig.
Dabei waren die Indizien eindeutig und schon lange ignorieren viele Fachleute schlichtweg das Dogma, um vernünftige Arbeit leisten zu können. Es steht im Grunde nur noch für die Mehrheit der Bevölkerung in den Lehrbüchern, damit die sich darin suhlen kann, dass der Mensch - das menschliche Gehirn – eine absolute Größe ist: unveränderbar, starr, wie in Stein gemeißelt, immer gleich.
Das mögen Menschen, dieses Gefühl des Immergleichen, das irgendwie nach Unsterblichkeit riecht. Es wäre doch schrecklich sich klar zu machen, dass das Leben nicht nur irgendwann endet, sondern sich auch noch ständig wandelt. Wie soll man denn ins ewige Leben rücken, wenn man vor einem Jahr ein anderer Mensch war als heute? Und vor zehn Jahren sowieso ... Welcher von den Vielen soll denn “ewig“ leben? Mein Jetzt-Ich? Oder mein zukünftiges Ich? – Oder gar eines meiner vergangenen Ichs?
Und noch schlimmer: wie kann ich einem Menschen treu sein – oder er mir? Betreibe ich gar Polygamie, wenn ich länger als sieben Jahre verheiratet bin? (sieben Jahre gelten schon lange als die klassische Zahl der Änderung, denn spätestens nach sieben Jahren hat sich ein Mensch komplett erneuert, seine Wassermoleküle und Mineralien ausgetauscht und andere Ersatzteile eingebaut)
Andererseits ist es auch tröstlich, dass das Gehirn offenbar zu einer Selbstreparatur in der Lage ist und dass mit steigender geistiger Beschäftigung auch ein Wachstum verbunden ist. Bildung und geistiges Regen scheinen sogar eine Art Schutzpuffer gegen Alzheimer und ähnlichen Krankheiten zu bilden. Fernsehen hingegen behindert das Nervenwachstum, die Neurogenese. Fernsehen ist also auch nervtötend. War doch klar, dass man uns immer wieder den Spaß verderben will ...
Aber was bringen uns diese Erkenntnisse in Bezug auf keinVerlag? Müssen wir jetzt unsere Einstellungen ändern und die Wortwahl? Sind Rechtschreibfehler plötzlich nicht mehr nervtötend, sondern vielmehr eine Art Gesundheitskur für den Leser, der dadurch geistig angeregt wird? Sind schlechte Reime jetzt eine Art Vitamin C fürs Hirn? Müssen wir als humanitäre Hilfsmaßnahme unter depressiven Texten lange und kluge Kommentare klatschen, damit die AutorInnen nachdenken und neue Nervenzellen ausbilden?
Nun ... Auf jeden Fall sprechen die Erkenntnisse dafür, dass wir nicht immer das Gleiche schreiben und mehr ausprobieren sollten. Auch müssen wir böse Kommentare nicht mehr so ernst nehmen, denn der abgeurteilte Text wurde ja nicht von uns, sondern von einem früheren (und viel unbegabteren) Ich geschrieben.
Das erklärt auf jeden Fall, warum ich Fehler in meinen Texten erst finde, wenn sie einige Zeit herumgelegen haben: sie sind dann ja nicht von mir.

Aber ... verdorri. Wie mache ich das denn dann in Zukunft mit dem Beantworten von Kommentaren? Darf ich so tun, als sei dieser - von einem anderen Ich stammende! - Text von mir?
Puh. – Zum Glück gibt es keine Antwortfunktion bei den Kolumnen. So brauche ich mir darüber nicht den Kopf zerbrechen und kann in einer Woche als neuer AndreasG nachschauen, was die ganzen “neuen“ Leute mit den altbekannten Nick-Namen schreiben. Eine Welt voller Phönixe, in der ich keinen einzigen eigenen Text haben werde. ICH könnte das sowieso alles viel besser ...

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