andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Montag, 25. September 2006, 05:03
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Mach’ Dir ein Bild.

Wenn wir uns unserer Gedächtnis vorstellen, kommt uns sehr schnell der Vergleich zu einem Computer in den Sinn. So in etwa muss es doch funktionieren: Daten empfangen, abspeichern und später wieder abrufen.
Das Kurzzeitgedächtnis wäre dann wie die temporären Dateien und/oder der Arbeitsspeicher. Dann kommt noch ein Filter davor, damit nicht jeder unnötige Mist im Kopf behalten wird. Fertig.
Hört sich schlüssig an, nicht?
Nur frage ich mich, warum ich als Kind immer so verzweifelt Vokabeln und Formeln pauken musste, die ich aber sofort wieder vergaß. Gewisse andere Sachen brannten sich mir aber schon nach dem ersten Lesen ins Hirn.
Nun mag man argumentieren, dass mir die Vokabeln nicht wichtig waren (was stimmt), das Andere aber schon (was auch stimmt), und dass mir deswegen entweder der Eingangs- oder Ausgangsfilter die Tour vermasselte. Was aber war mit den Dingen, die ich auch vergaß, obwohl sie mir wichtig waren?
Leider ist das heute keinen Deut besser. Gestern etwa fiel mir ein geniales Thema für eine Kolumne ein …
Da ich inzwischen das Sieb kenne, dass sich zwischen meinen Ohren aufspannt, erzählte ich sofort Brigitte davon. Aufschreiben ging nicht, da ich traditionell meinen Notizblock vergesse. Aber ich habe ja Brigitte.
Wieder zu Hause, klaffte ein großes Loch in meiner Erinnerung. Es reichte etwa von: „ich hab’ da eine Idee für die Kolumne …“ – bis: „erinnerst Du mich daran, Brigitte?“.
Leider kam es zu einer spontanen Zwillingslochbildung, das Duplikat fand sich in Brigittes Kopf. - Eine gute Antwort auf die Frage, warum ältere Männer sich so gerne Frauen suchen, die wesentlich jünger sind ...
„Schreib’ doch darüber,“ meinte die, die nicht eine Sicherungskopie auf zwei Beinen, sondern ein eigenständig denkendes Wesen ist.

Zumindest beruhigt es, dass das einzige Problem unserer ansonsten untrüglichen Erinnerungsgabe der Zugriff auf die Daten ist. Es ist da irgendwo drin, völlig korrekt abgespeichert, und kommt nicht raus. Das Ding hinter den Augen funktioniert ja wie ein Computer.
… wäre da nicht …
Historiker haben (endlich) herausgefunden, dass nicht die Worte zwischen den Buchdeckeln, sondern die Medien mit ihren atmosphärischen Fotographien und Filmen unserem Gehirn die Erinnerungen an die Vergangenheit eingeben. Nicht Theodor Mommsen, sondern Ben Hur malt uns das Bild der Antike. Und Prinz Eisenherz und Robin Hood zaubern uns das Mittelalter herbei. Doch das gilt nicht nur für die alte Geschichte, sondern auch für unsere persönliche Geschichte, für unseren Lebenslauf. Auch wir haben Erinnerungen an Erlebnisse, die wir so gar nicht gehabt haben (Quelle: Rafaela von Bredow, in: SPIEGEL, Nr. 38 / 18.9.2006, S. 164 – 166).
Kriegsveteranen erzählen “Selbsterlebtes“, das aus Kriegsfilmen stammt und sind felsenfest davon überzeugt, dass es ihre eigene Geschichte ist. Ein amerikanischer Vietnamteilnehmer (John Plummer) sühnt seit Jahrzehnten öffentlich seine Missetat ein Dorf bombadiert zu haben, das gar nicht von amerikanischen Flugzeugen angegriffen wurde. Den Zeitungsbildern sei Dank.
So sind auch Ereignisse im Kollektivgedächtnis der Deutschen als typischer Studentenprotest der 68’er abgespeichert, die nur Randerscheinungen waren. Sogar bei den “Teilnehmern“ ist das Bild verklärt, die Erinnerungen trüb. Und was mich am stärksten beeindruckte: das unheimliche Torhaus von Ausschwitz-Birkenau, vor dem sich mehrere Schienenstränge zu einem einzigen vereinen, um dann in das Vernichtungslager hinein zu führen (schon in der Schule war ich von der Aussage des Fotos überwältigt), zeigt gar nicht die Außenansicht, sondern die Sicht von innen nach außen. Selbst ehemalige KZ-Insassen haben das falsche Bild verinnerlicht.
Vielleicht geht es uns bei unseren Kindheitserinnerungen ähnlich. Filme und Fotos, hunderte Mal von den Eltern an Geburtstagen oder zu Feiertagen gezeigt und kommentiert. „Schau hier, das war Dein Freund Gustav …“, „Kuck mal, in dem Schwimmbecken hast Du geplanscht …“, „und hier bist Du zu sehen, bevor Du bei Tante Ingeborg in die Torte gefallen bist …“ …
Waren wie “schon immer aufmüpfig“, “die liebsten Kinder“, “total tollpatschig“, “ständig am heulen“ – oder sind das gar nicht unsere Erinnerungen? Sind unsere ach so klaren Kindheitsbilder gar nicht von uns?
Nur eines ist offensichtlich: da hilft keine noch so junge Sicherungskopie mit noch so hübschen Beinen, niemand, der noch einmal die Erinnerungen durchfiltert und uns präsentiert. Es gibt schon so vieles, das wir unkritisch glauben.



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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 AlmaMarieSchneider (28.09.06)
Das ist leider so. Ich frage mich auch oft was denn nun MEINE Erinnerungen sind oder die Geschaffenen.
Tolles Thema, gut dazu geschrieben, gern gelesen.
Gini (57)
(28.09.06)
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