Aus dem Leben eines Obdachlosen - im Schlafsaal

Text

von  pentz

24 Uhr – Im Schlafsaal

Kein Gefühl für Chronologie und zeitliche Zusammenhänge. Ich notiere mir alles wahllos in mein Sudelbuch. Dann schreibe ich es in eine Datei, die ich im Internet veröffentliche. Ein Leser hat mir nicht abgenommen, daß ich obdachlos sei. Warum das so ist? Ich weiß es nicht.
Ich schreibe in dieses Tagebuch das hinein, was mir in den Sinn kommt. Manchmal ist vergangenes Erlebtes so intensiv, daß ich glaube, es jetzt wirklich im Hier und Jetzt zu erleben...

Endlich einen Platz gefunden zu haben und auf dem nackten Boden zu sitzen, die Knie fast ans Kinn gezogen und Ruhe. Auf meiner Schläfe bemerke ich eine kleine Ader, die wie ein Uhrwerk pocht. Aber jetzt die totale Konzentration auf die Gedanken in meinem Gehirn.
Ich erinnere mich an eine Nacht. War es die gestrige?
Jeder Schläfer in diesem von schwerem, kalten Geruch erfüllten Dunkel hatte sich zwischen Lichterlöschen und Wecksignal in eine Mumie verwandelt. Jedem fuhr der eigene Atem von den Füßen des Nebenmannes ins Gesicht zurück. Man durfte im eigenen Interesse die Stellung nicht ändern. Ich wußte noch im Tiefschlaf so gut wie mein Nachbar, daß jede Bewegung Wärmeverlust bedeutete und einen zähen, quälenden Kampf um ein Stückchen Decke nach sich zog.
Dennoch befand ich mich zwischen zwei imaginären Grenzlinien, die mein Wille noch im Schlaf zog und die hart waren wie Glas: ich wollte um jeden Preis allein sein mit meinen Gedanken, mit den dumpfen Träumen, die hinter den Lidern brodelten, mit den Erinnerungen aus einer Vergangenheit, die immer unglaubhafter wurde.
Man merkte das an der Veränderung des Atems, an einer leuchten Spannung des Körpers, die sich dem Nachbarn unter der Decke mitteilte. Viele mußten wach liegen.
Niemand konnte die Nacht über aufstehen, eher mußte er sich in die Hose machen. Wer das dennoch tat, wurde manchmal von den Getretenen zu Boden gerissen.
Wir schliefen in einem Geruch von Anis und Erbrochenem.
Ich bewegte nur den Kopf nach oben. Was ich über den Meer von Schlafsäcken gegen das grelle Licht hindurch sah, war eine Silhouette, der Umriß eines Mannes, der sich nach vorn beugt und sich mit seinen Händen umfasst, um sich selbst zu wärmen. Dieses Bild habe ich schon x-mal gesehen.
Dann bemerkte ich ein Flimmern und drehte meinen Kopf dorthin, das ein Lichtschimmer unter einer Tür war. Also befanden wir uns in einem großen Schlafsaal, der abgesperrt war.
Hinter der Tür vernahm ich das gedämpfte Hin und Her von Füßen.
Lichtbündel der Scheinwerfer strichen an den Fenstern vorbei. Man hörte deutlich halblaute Rufe der Patrouille der Sicherheitsleute, das Vorbeiknirschen der Stiefel. Draußen lag also Schnee.

Ich habe mich schon an die Stunde gewöhnt, in der mein Schlaf sich von selbst unterbricht, in der ich träumen und denken kann und über die Hälfte hinwegkomme, die sich allmählich trotz aller Vorsorge unter die Decke schleicht. Es ist die einzige Stunde im Ablauf eines Tages, die mir ganz gehört.
Meine Stirn ist nach vorn geneigt, und mein Blick kommt darunter hervor wie der eines Mannes, der eine neue Erscheinung, die doch nicht so neu ist, als daß er sie nicht in seiner Erinnerung wiederfinden möchte, in eine ganze Reihe und in ein System von vertrauten, oft durchdachten Tatsachen einzubeziehen bemüht ist.

Durch das ausgehöhlte, glaszerschlagene Fenstergeviert sehe ich auf den Platz hinaus, auf dem der Wind erwacht ist mit Schleiern aus Ziegelstaub und verbranntem Papier.
Durch die mondbeschienene Nacht von einem Hügel aus die im weißen Licht schimmernde Stadt. Der Schnee glänzt silbern, als ob er das reinste Metall wäre.

Im moosigem, schimmlig verfallendem Gestein fließt das Wasser golden, weil die Sonne darauf scheint. Es fließt zwischen der Reihe von gestutzten Bäume, die ihre abgeschlagenen Stämme und dicken Äste wie Glieder in die Höhe recken. Invaliden des Umweltschutzes.
Wer hat das gemacht?
Warum reißt man nicht den Baum samt Wurzeln aus, sondern stutzt menschenkörper-breite Stämme und Äste an Bäumen?
Wer darf so etwas heute noch machen?

Mein Hirn wie ausgeleert.

© Werner Pentz

Hilfe, Unterstützung zum Leben
unter paypal
pentzw@web.de

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram