Von Stu zu Pete. Teil 2

Text

von  FRP

Vorwort

Kauf dir gefälligst ein Smartphone, oder sie zu, wo du bleibst, und hinkommst. Nun setzt auch der Regen wieder – täglich Regen, wie halten die Briten das nur aus? Sie lieben das sogar, teilweise. Behaupten sie. Ich habe den Regen satt, satt und nochmals satt. Ich erfrage mir den Weg zur Straße „Hayman’s Green“, was nicht allzu schwer ist.
               
Dort angekommen, sehe ich, dass das Tor offensteht, und ich begebe mich auf das Gelände; natürlich verbunden mit der Hoffnung, dass es hier keine großen Hunde geben möge. Ich laufe um das große Haus, bemerke einen Steinbrunnen, und zahlreiche kleine, buddhistische Figuren auf dem Anwesen. Irgendwann wird hinten eine Tür geöffnet, und ein Typ kommt heraus, der mich fragt, was ich hier will. Na, das ist doch das Anwesen von Pete Best, wo sich dereinst der berühmte Casbah-Club befand, in welchem die Beatles genauso erfolgreich spielten, wie im Star Club oder im Cavern Club. Den man, so steht es in meinem Reiseführer, auch besichtigen kann. Klar kann man, sagt der Typ, aber einen Termin dafür solle man schon buchen. Ich habe einerseits Pech, denn der Mittags-Termin ist gerade im Gange, und das würde sich nicht mehr für mich lohnen, wenn ich dazu käme. Aber, falls ich will: In 2 Stunden findet die nächste, gebuchte Führung statt, und falls die beiden Personen, die gebucht haben, nichts dagegen hätten; und nicht noch inzwischen andere Buchungen dazu gelangt wären, könne ich bar zahlen, und mich anschließen. Na, das freut mich doch; dass ist genau die Chance, die ich ergreifen will. Ob ich von vorne, von der Bushaltestelle komme? Ja?

Auf dem Weg hierher hast du bestimmt das kleine Café bemerkt, da kannst du in aller Ruhe und im Trockenen abwarten. Du meldest Dich dann hier. Ich bin dann zwar nicht mehr vor Ort, aber ich kündige dich an. Sagt er. Er sieht nicht aus wie Pete Best oder einer seiner Verwandten – es hätte ja sein können. Das wäre der pure Wahnsinn gewesen, Pete selbst anzutreffen.
 
Im Regen laufe ich also wieder vor in Richtung Bushaltestelle, und begebe mich in das Café. Wenigstens ist es ein richtiges Café, und Kein Pub. Ich nutze die hier vorhandene Toilette, nachdem ich bereits vorhin, auf dem Gelände von Hayman’s Green Nummer 8, als mich der Typ noch nicht bemerkt hatte, kurz davor war, etwas zu tun, was mich aus allen positiven Überlegungen der Leute dort ausgeschlossen hätte; zahlende Kundschaft hin oder her.
 
Ich lese in meinen Reiseführern Abschnitte, die ich bisher ausgelassen hatte, zum Beispiel den über Mona, die Mutter von Pete Best, die bei einer Wette bei einem Pferderennen die Geldsumme gewonnen hat, welche es ihr ermöglichte, das Anwesen hier in West Derby zu kaufen, und den Casbah Coffe Club im Keller zu eröffnen. Wie so manch andere Engländer der Kolonialzeit beziehungsweise des Commonwelath wurde Mona in einem Indien geboren, welches noch ein Teil des British Empire gewesen ist. In Indien, in Madras, brachte sie auch ihren Sohn Peter am 24. November 1941 zur Welt.

Die Beziehung mit Peters Vater Donald Scanland scheiterte, sodass der neue Mann, Johnny Best; Peter schließlich adoptierte. Im Dezember 1945 zog man nach der Geburt von Peters Halbbruder Rory zurück nach Liverpool. Die Beziehung zwischen Mona und Johnny war nicht von Dauer, und Mona ging und das Jahr 1961 eine neue ein, mit einem gewissen Neil Aspinall, der bald darauf zum Roadie der Beatles werden sollte. Mit Neil hatte Mona hatte Mona ein weiteres Kind, einen Sohn namens Vincent „Roag“ Best. Roag wurde am 31. August 1962 geboren, ich am 11. Februar; und am 16. August 1962 wurde Pete Best bei den Beatles durch Ringo Starr ersetzt.
 
Das lange Warten im Café war ziemlich öde, der zunehmende Regen draußen desillusionierte mich, senkte sich wie Blei in meine Seele. Tag für Tag immer nur Regen; da möchte man doch nach Hawaii ziehen, gleich dem Vater von Graham Nash, dem Musiker der Hollies und Crosby, Stills, Nash & Young. Doch wie alles geht auch dieses Warten vorbei, was erschreckend ist; handelt es sich doch dabei um meine Lebenszeit. Aber egal, ich habe sie genutzt, und mir Wissen angelesen. Zurück in Hayman’s Green treffe ich auf ein irisches Pärchen, welches die Führung gebucht hat. Sie sind beide sehr nett, und haben nichts dagegen, dass ich mich anschließe.

Da ich selbst viel jünger aussehe und wirke, als ich wirklich bin, ist es selbst für mich sehr schwer zu sagen, ob die beiden ungefähr gleichalt, oder jünger sind als ich. Wie so viele andere auch halten sie mich jedenfalls für jünger, bis ich später Details aus meiner Kindheit preisgebe, die keine anderen Rückschlüsse zulassen würden, als dass ich deutlich vor 1969 geboren sein muss. Falls man überhaupt soweit mitdenkt; versteht sich. Dann tritt unser Tour Guide auf den Plan, ein kleiner Bursche, der bereits über mein beabsichtigtes Partizipieren unterrichtet wurde – der Typ von vorhin taucht wirklich nicht wieder auf. Vielleicht war es ja Roag, wer weiß. Unglücklicherweise hat der uns nun betreuende Typ den stärksten Liverpooler Akzent, den ich je vernommen habe; sodass mir zirka die Hälfte all dessen, was er sagt, in den letzten Feinheiten entgeht. Ich lache trotzdem über seine Witze. Als ich mich später mit den beiden Iren unterhalte, meinten die, dass sie auch nur nichts verstanden haben. Die Geschichte ist hinlänglich bekannt: Mona wollte eine Auftrittsmöglichkeit für junge Liverpudel-Bands erschaffen, und Kaffee ausschenken. Ihr Sohn Pete hatte gelernt, das Schlagzeug zu handhaben; und wer weiß, vielleicht würde er auf diesem Weg eine respektable Band finden. Außerdem könnten die jungen Leute hier nach Herzenslust tanzen.
 
Schon bald wurde der Club sehr beliebt, und ich stelle mir vor, wie sich jedes Wochenende die Straße und der Hof des Anwesens mit Jugendlichen füllten, die darauf warteten, Eintritt in dem kleinen Keller zu erhalten. Dieser sollte eine Evolution in drei Etappen durchmachen; von „ganz eng“ vorn bei der Tür, über: Nutze auch die Seitengänge und erweitere die Fläche bis zur Mitte des gesamten Gewölbes, um schließlich auch noch den vorletzten, als Keller genutzten Raum aufzugeben, und die gesamte hinteres Fläche als Bühne umzugestalten, auf der sich heute noch zwei drum-sets von Pete befinden. Am 29. August 1959 wurde der Club eröffnet, und die Quarrymen, die Vorläufer der Beatles, spielten zu diesem Anlass. Mona Best hatte sogar versucht, die Quarrymen im Cavern Club unter zu bekommen, aber zu jener Zeit spielten dort noch ausschließlich echte Jazz Bands.
 
Insgesamt gaben Lennon, McCartney und Harrison hier, im Casbah, 44 Konzerte mit wechselnden Mitspielern, und unter wechselnden Bandnamen. Am Anfang wurde jede etwas größere Fläche des Kellers zum Tanzen und zum Aufenthalt der Gäste genutzt, und wir staunen schon sehr, als wir sehen, dass den Bands nur ganz enge Nischen blieben, von denen aus sie spielten. In jeden dieser Räume hängen zahlreiche Fotos, die allen relevanten Formen eines jedweden „damals“ dokumentieren. Mit Ausnahme eines jedweden „damals“ betreffend Ringo Starr.
 
Die Quarrymen hatten dabei geholfen, den Club für die Eröffnung vorzubereiten, indem sie malerten, und jeden Raum mit einer anderen Farbe anstrichen. Die Beatles hatten damals keinen festen Schlagzeuger und behalfen sich mit jedem, der gerade frei war, und mit ihnen spielen wollte. So half auch Pete Best einige Male aus, bevor er für Hamburg als temporär festes Mitglied eingestellt wurde. Bei einem Auftritt in der Upper Parliament Street in einem Striptease Club hatte sogar Paul McCartney einmal das Schlagzeug übernommen – ein wenig hatte er das Spielen ja von seinem Bruder Mike, der Schlagzeuger war, gelernt. The Black Jacks nannte sich die Gruppe, in der Pete Best damals hauptsächlich spielte. Mitglieder dort waren auch ehemalige, ausgeschiedene Musiker der Quarrymen. The Remo Four, Gerry and the Pacemakers und die Searchers zählten zu den bekanntesten Bands, die im Casbah auftraten. Bereits am 24. Juni 1962 schloss Mona den Club wieder, und die letzte Band, welche dort auftrat, waren natürlich die Beatles. Heutzutage ist der alte Eingang zum Club, der schon immer im Hof, hinter dem Haus, lag, nicht mehr zu nutzen.
  
Überall haben sich die Beatles, ihre Frauen und Freunde, hier verewigt: Cynthia Lennon malte schon Johns Schatten in weißer Farbe auf das schwarze Holz, John ritzte „I’m back“ in die Decke, als er aus Hamburg wieder nach Liverpool kam, draußen, im Beton der Wege, haben die Beatles und Leute aus dem Umfeld Abdrücke ihrer Hände hinterlassen, John hat eine weiß gestrichene Decke mit Mustern versehen; und dergleichen mehr.
 
Pete, so sagt es uns der kleine Typ mit seinem Akzent eines betrunkenen Liverpudels mit schwerer Zunge, wäre momentan auf USA Tournee. T-Shirts, und Bücher über den Casbah Club könne man kaufen, was ich aber nicht nutze. Hunderte Fotos von Auftritten der Beatles hier hängen an den Wänden, Tour-Plakate, Werbehandzettel für ganz frühe Auftritte, Repliken der Straßenschilder jener Straßen hier in der Stadt, die nach den einzelnen Mitgliedern der Beatles benannt sind; - nur; es gibt einen Namen, der hier völlig tabu ist, und dieser Person, ob nun als Foto, Schriftzug, oder mündliche Erwähnung des Tour Guide, wird man hier nicht begegnen: Ringo Starr. Als ihn der Ire einmal nennt, sagt der Liverpudel immer wieder: „Who?!“ „Who??!!“, Whooo?!!!“. Ringo ist hier persona non grata; zu tief sitzt der Schmerz über Petes Entlassung aus der Band gerade dann, als sie 1962 den Plattenvertrag mit George Martin für das Parlophone-Label abschlossen. Beim Erscheinen der drei Doppel-CDs der „Anthology“ im Jahre 1995 hat Pete für die wenige Musik auf den CDs, auf der er mitspielt, schließlich doch noch eine beachtenswerte Summe Geld erhalten, welches für den Rest seines Lebens ausreichen sollte, wenn er klug mit den Millionen agiert. Dazu kontaktierte ihn erstmals seit 1962 wieder einer der Beatles; es war Paul McCartney, welcher ihn anrief, und meinte: „Ich habe hier einen dicken Scheck für dich. Du kannst ihn nehmen, oder es lassen“. Pete nahm. Aber es erscheint mir mehr als nur ein wenig unglaubwürdig, wenn unser Liverpudel behauptet, dass Paul oftmals bei seinen Aufenthalten in Liverpool (Mike, sein Bruder lebt noch drüben auf der Wirral-Halbinsel), hier vorbeikommt, und an das Fenster klopft. Paul ist doch reichlich distanziert, und keiner der drei Haupt-Beatles entwickelte jemals eine Freundschaft zu Pete. Man hat sich nicht einmal richtig miteinander unterhalten, und Pete hat sich schon in Hamburg abseits gehalten, indem er sich eine deutsche Stripperin als Freundin zulegte, bei der er einzog. Neid, weil er der am besten Aussehende gewesen wäre? Das ist doch eher so eine Art Schutzbehauptung, um Petes Entlassung nicht so eindeutig als „geschehen aufgrund mangelnder Fähigkeiten als Schlagzeuger“ erscheinen zu lassen. Paul war in der Meinung der Damen der Attraktivste; und Pete war bestenfalls ein „Moody Guy“, ein launischer Typ Rock’n Roller, so wie ihn Shane Fenton, der später als Alvin Stardust eine zweite Karriere hinlegte, in seinem Song „Moody Guy“ vom September 1961 beschrieb. Anders gesagt: Pete war allerhöchstens der Best-Aussehende.

Pete und Stu waren oft gewarnt wurden, ihre Fähigkeiten an ihren Instrumenten zu verbessern, doch sie taten es nicht. Ihr Ausscheiden war logisch und folgerichtig. Sein Humor war nicht der der drei anderen, und seine Mutter Mona versuchte, in die Geschicke der Band in einer Art einzugreifen, wie sie John von Tante Mimi her bekannt vorkam. Mit Pete, so dachten die Beatles, könnten wir sogar unseren Schallplattenvertrag wieder verlieren. George Martin, der Produzent, verlangte für die Aufnahme der ersten Single „Love me do“ einen erfahrenen Mann am Schlagwerk. Dafür engagierte George Martin den erfahrenen Session-drummer Andy White, obgleich Ringo schon zugegen war, was Ringo natürlich verunsicherte, da er annehmen musste, ihm würde es ergehen wie Pete. Diese Version, wurde auf Single veröffentlicht; auf der LP konnte Ringo seine Version unterbringen. Andy Whites Einspielung können wir heute noch auf der Zusammenstellung „Past Masters Volume 1“ hören. Hört man Pete am Schlagzeug bei den Aufnahmen der von den Plattenfirmen Decca und EMI abgelehnten Bewerbungs-Vorspiele, kann man sich noch einreden, dass das Fehlen jeglicher Raffinesse, selbst das Fehlen der sonst bei fast allen drummern markant bedienten snare drum eben den Platzierungen der Mikrophone geschuldet sei. Für die Aufnahme des Schlagzeugs wurden damals keine extra-Mikrophone bei den drums aufgestellt, man vertraute auf Gott, dass die Gesangs-Mikrofone der anderen genug Input von ganz hinten bekommen würden. Aber beim Anhören der Aufnahme von „Love me do“ mit Pete an den drums kann es keine zwei Meinungen geben: Er vermasselt es, ohne jeden Zweifel, ohne jedes Gefühl für Takt, Zeit, fill-ins, oder einfach nur straight zu bleiben, wenn er schon sonst nichts kann. Mehr braucht es nicht, um zu sehen, dass er das, was Ringo später leistete, niemals hätte liefern können. Es kamen also einige Gründe zusammen. Er hatte in Liverpool seine Anhänger, die den Beatles das Leben schwermachten, als er gehen musste. Wenigstens für ein paar Wochen. George Harrison, den man zu Recht als die treibende Kraft hinter dieser Veränderung ausmachte, bekam sogar einmal einen Faustschlag ins Gesicht. Dann zogen die Beatles nach London, und sie hatten niemals mehr auch nur ein freundliches Wort für-, oder an Pete.
 
Neil Aspinall, der ja mit Mona Best ein Kind hatte (auch dieses wurde im prüden England von 1962 von Brian Epstein, dem Manager der Beatles, als Skandal und als mögliche Bedrohung für die Beatles gesehen), blieb der Band als Roadie erhalten. Er wollte kündigen, aber sein Freund Pete Best meinte, er solle das nicht aufgeben. Als Neil John fragte, warum Pete hatte gehen müssen, war Johns Antwort die Gegenfrage, was das denn den Roadie und Fahrer der Band denn anzugehen habe. Brian Epstein bot Pete an, um ihn herum eine neue Band aufzubauen, aber Pete lehnte ab, und blieb zwei Wochen lang in seiner Wohnung, aus Angst, Fragen beantworten zu müssen, die doch nichts als schmerzlich waren. Kein Ruhmesblatt für Lennon, McCartney und Harrison, wie sie mit Pete umgingen.Hinter den Kulissen vermittelte Brian Epstein Pete schließlich doch an eine andere Band aus Liverpool, der aber kein Erfolg beschieden war. Mitte der Neunziger Jahre wurde in Liverpool ein Theaterstück aufgeführt, welches auf dem fiktiven Szenario basiert, dass Pete Best erfolgreich wurde, während John, Paul, George und Ringo dahinvegetieren. Das würde ich mir glatt anschauen.
       
Seit 1988 tourt Pete wieder mit einer eigenen Band. In Interviews wirkt er sympathisch, und durchaus humorvoll, auch selbstironisch. Es scheint, dass er, soweit das überhaupt möglich ist, seinen Frieden mit dieser Angelegenheit gemacht hat. Es gibt auch viele Fotos von Pete Best nach der Zeit bei den Beatles, besonders solche, die ihn bei Auftritten in den USA zeigen, und auf denen er zusammen mit namhaften Künstlern fotografiert wurde. Als wolle er sich und anderen krampfhaft etwas beweisen, doch die Fans wissen, dass er um das Jahr 1967 jegliche Hoffnung aufgeben musste, musikalisch noch irgendetwas zu bewirken.
 
Eine Zeitlang arbeitet er als Auslieferer für Backwaren, und als Job-Berater auf dem Arbeitsamt von Liverpool. Seine Familie, so wird berichtet, konnte im Jahr 1963 (nach anderen Quellen: 1969) gerade noch einen begonnenen Selbstmord verhindern.Selbstverständlich wird er heutzutage geliebt und verehrt; nicht für sein Spiel, aber dafür, dass er Pete Best ist. Dass er noch da ist. Das er Teil der Legende ist, von der man ein Stück zu erhaschen glaubt, wenn man ihm nahekommt. Er ist schon ein seltsam wirkender Typ. Als ob irgendetwas von Indien, wo er ja zur Welt kam, in seine Physiognomie gefahren ist; so wirkt er auf mich, mit seinem Oberlippenbärtchen. Und so wirken auch andere in Indien geborene reine Engländer, wie etwa Peter Sarstedt, den wir ob seines Titels „Where do you go to, my lovely“ kennen. Diese ganzen Anstrich-, Farb- und Schattenspiele, Einritzungen, Muster – all das fördert eine Erinnerung in mir zutage, die ich nicht verhindern kann; so gern ich nun, im Casbah Club der Beatles, vollständig im Hier und Jetzt verblieben wäre. 1978, als Olaf längst in die obere Etage unserer Schule gewechselt war, um sein Abitur zu machen, hatte ich mich einer Gruppe von Mitschülern angeschlossen, die nicht gerade durch ihre schulischen Leistungen bestachen, was leider auch auf mich selbst zutraf. Auf jene Schüler traf allerdings etwas zu, was ich nicht aufzuweisen hatte:
 
Sie waren groß, frech, aufmüpfig, und eindeutig die Chefs an der Schule, die zum Feind zu haben sehr unangenehm werden konnte. Einen unspektakulären, schwächlichen Langweiler wie mich hätten sie eigentlich niemals in ihren Kreisen geduldet, wenn ich nicht so manchen Abend im Waschhaus durch mein Gitarrenspiel aufgebessert hätte. Somit gab es einige Leitwölfe, die den anderen, vor allen den Gelegenheitsgästen, schnell klarmachten, dass man mich gefälligst in Ruhe zu lassen haben. In einem alten, schon lange nicht mehr genutzten Waschhaus im Stadtteil Plagwitz, welches zum Areal eines Wohnblocks gehörte, in dem einer der Leitwölfe wohnte, richteten wir uns ein. Wir strichen die Wände, und stellten Bierkästen aus Stühlen auf, improvisierten Betten mit Matratzen, die wir auf die Kästen legten, und malten, gleich den Beatles, unsere Schatten an die Wände. Einer der Typen namens Steffen, dessen Familie zu den Reichen gehörte, wohnte in einer Siedlung Schleussig, an deren Peripherie unsere Stammkneipe namens „Waldschlösschen“ lag. Dieser Typ hatte ein Piano im Haus, welches wir in sein Zimmer in den ersten Stock hochhievten; er, ein zweiter Gitarrist, und ich. Somit hatten wir die Keimzelle einer kleinen Band. Wir probten einige Male, und hatten zwei kleine Auftritte; aber da war der Typ mit dem Piano schon nicht mehr dabei. Dann gingen wir in die Lehre, ein jeder in seine, und das war’s. Wäre es den Beatles genauso gegangen, wäre der Keller im Casbah Club heutzutage vielleicht wieder ein Keller, voll mit eingelagertem Obst, und Ersatzteilen fürs Auto. Unser Waschhaus gibt es auch nicht mehr, aber vor 20 Jahren konnte ich noch einmal einen Blick hineinwerfen – unsere Schatten waren immer noch an den Wänden. Auch Steffen, unser Pianist, starb mit Anfang Vierzig, wie auch Olaf. 

Nun war ich also auch im Casbah Club, irre! Zusammen mit dem irischen Pärchen laufe ich zurück zur Bushaltestelle. Wir platzieren uns wieder oben im Doppeldecker. Wir unterhalten uns, und ein alter Mann, welcher hinter uns sitzt, hört uns zu. Schließlich mischt er sich ein: „Ich habe die Beatles 1960 gehört, und 1962 die Searchers. Ich mochte die Searchers viel lieber, die spielten viel straighter. Ich sagte es allen, aber keiner hörte auf mich“. Obgleich er das ernst zu meinen scheint, lachen wir drei darüber. Dieser Kult, der um die Beatles betrieben wird, erscheint auch mir als übertrieben, wenn ich wirklich ehrlich bin. Andererseits mache ich ja selbst dabei auch mit, obwohl ich so viele andere Bands schätze. Verdient hätten es viele, in der kollektiven Erinnerung der Menschheit zu bleiben, zum Beispiel die Hollies, Small Faces, Procol Harum. In Allerton sah und fotografierte ich einmal ein Schild namens „The Hollies“, welches am Eingang eines Anwesens angebracht wurde. Sollten die jetzt etwas alle hier zusammen leben, etwa auch Graham Nash? Ein Witz pro Seite sei mir gestattet …
 
Wir alle leben in Archetypen; folgen Mustern. Man greift sich etwas heraus; und jenes ist es dann; jenes ist „das Größte, Beste, einzig Erwähnenswerte“. Mein Schulfreund Olaf war so gestrickt: Er nahm sich zuerst das anerkannt Beste vor, um sich später vielleicht, gegebenenfalls, auch anderem zu öffnen. Ahnte er vielleicht, wie wenig Zeit er haben wird? Dass er nicht allzu viel Zeit für Nebensächliches vergeuden durfte, um sich auf die Hauptsachen seines Lebens zu konzentrieren?
 
Ich lande wieder in der Lime Street, der zentralen Bushaltestelle am Everyman Theater. „Standing by the ev’ryman …“ tönt das Lied von Donovan in mir in der Version von Marianne Faithfull. Hier werde ich erstmals des Gedenk-Baus für die Opfer von Hillsborough, Sheffield, gewahr; als am 15. April 1989 sechsundneunzig FC Liverpool-Fans zu Tode kamen. Dann suche ich endlich einmal die Seel Street auf, wo sich in der Nummer 108 der nach einem Song von Roy Orbison aus dem Jahr 1960 benannte Pub namens „Blue Angel“ befindet. Bereits bei den Docks von Liverpool waren wir ja der Statue für Billy Fury begegnet, welcher einige Jahre vor dem Erfolg der Beatles mit „Halfway to paradise“ zumindest einen Riesenhit hatte. Das war die Sorte von Musik, welche auch meine Mutter und ihre beiden Schwestern; überhaupt ein Großteil der Erwachsenen meiner frühen Kindheit zu schätzen wusste. Eingängig, melodisch, schmachtend, und kein intellektuelles Weh verursachend.
 
Billy’s Manager, Larry Parnes, suchte eine neue Begleitband für seinen Star, und er dachte dabei durchaus an die Beatles, oder, richtiger: Silver Beetles, wie sie sich damals nannten, nach John Silver, dem Schurken in Robert Louis Stevensons Roman „Die Schatzinsel“. Am 10. Mai 1960 kam es im Kellerraum zum Vorspiel hier im „Blue Angel“, welcher damals noch „The Wyvern Social Club“ hieß. Außer den Beatles traten noch vier andere Bands an, darunter Rory Storm and the Hurricanes, mit Ringo Starr am Schlagzeug. Die Beatles hatten mal wieder einmal keinen Schlagzeuger, also borgten sie sich Johnny Hutchinson von der Band Cass and the Cassanovas aus. Es ist hinlänglich bekannt, dass die Beatles nicht ein einziges Vorspiel in ihrer Karriere direkt erfolgreich bestanden, und so sollte es auch diesmal enden.
 
Doch Parnes erkannte trotzdem ein gewisses Potential, und schickte sie zusammen mit einem anderen Star, den er unter Vertrag hatte, einem gewissen Johnny Gentle, auf Schottland-Tournee. Am 12. August 1960 testeten die Beatles hier einen drummer, der sich darum beworben hatte, mit ihnen nach Hamburg zu fahren. Es war Pete Best. Allan Williams, welcher vor Brian Epstein die Ehre hatte, die Beatles zu managen, übernahm den Club im Jahr 1963, und nannte ihn „The Blue Angel“. Als ich ankomme, ist der Club noch geschlossen. Ein Typ, der drinnen räumt und tut, bemerkt mich beim Fotografieren, kommt raus, und sagt, dass man in Kürze öffnen will. Ich verzichte, und gehe weiter. Abgefahren nach Hamburg mit dem kleinen Transporter sollen die Beatles damals genau von hier sein, vom „Blue Angel“ aus.
 
Meinen Weg zurück zum Dolby Hotel nehme ich durch China Town, der ältesten chinesischen Ansiedlung in Europa, die bis auf das Jahr 1836 zurückgeht. Der große Torbogen, der Chinese Arch, durch den ich zu Beginn schreite, wurde in Shanghai gefertigt, in über zweitausend Einzelteilen verschifft, und im Jahr 2000 hier aufgestellt. Der Torbogen birgt 200 Drachen in sich, darunter sind 12 schwangere. Abends wird er perfekt angestrahlt, was gerade geschieht, als ich dort ankomme. Sein Herstellungspreis betrug 700.000 Pfund. Es ist das zweitgrößte, chinesische Tor außerhalb Chinas, das größte befindet sich in Washington. Gegen Ende meines Weges verlasse ich China Town und wechsle in den Baltischen Triangel. Vorher bemerke und fotografiere ich noch ein großes Beatles-Graffiti. Und wieder warten ein leckeres Reisgericht und mehrere Tassen Grüner Tee auf mich im Dolby Hotel. Wie immer mundet mir alles sehr gut.  That’s all for today, good night. Stay cool! I’ll see you tomorrow at Liverpool.
            

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