4. Tradition und Sitte

Text

von  Elisabeth

Wasser auf seinem Gesicht weckte ihn, salziges Wasser, er lag zum Teil darin. Wo ... warum ...

Es dämmerte, die glitzernde Wasseroberfläche befand sich knapp unter seiner Augenhöhe, endlos schien sich das Wasser zu erstrecken, unter ihm jedoch war kühler Fels. Es roch nach Algen und fauligem Fleisch, über ihm eine überhängende Felswand, um ihn herum unregelmäßig geformte Felsen, Seegras ... nein, verfaulende Gewänder an ebenso faulenden Leibern, halb von der Flut bedeckt, ebenso wie er selbst. Das mußte die Richtklippe von Berresh sein, die über ihm aufragte, und neben ihm diejenigen, die gerichtet worden waren. Er hatte durch den Schutz der Eichenrindentinktur wohl nur das Bewußtsein verloren, war aber für tot gehalten worden.

Derhan setzte sich auf. Seine Schuhe fehlten, auch die Kappe - natürlich; die Stoppeln auf seinem Scheitel waren länger, als ... als jemals zuvor, seit er sich jeden Tag den Schädel rasierte. Wie lange hatte er hier gelegen? Es schien die Morgendämmerung zu sein, der Himmel hellte sich zunehmend auf und die Möwen begannen zu kreischen. Folglich mußten es mindestens zwei Nächte und ein Tag gewesen sein. Sie hatten ihn also gefunden und erkannt, daß er den Patron mit Gift töten wollte. War es ihm gelungen?

Seine linke Seite, der linke Arm, das Bein schmerzten, doch gebrochen schien nichts, sie hatten ihn also nicht von der Klippe gestürzt. Der Weg hinauf war immerhin lang und mühsam, sie hätten ihn tragen müssen, denn für einen Wagen war der Pfad nicht breit genug. Die zum Tode Verurteilte waren gewöhnlich nicht schon selbst wie tot und gingen auf eigenen Beinen zur Richtstätte. Und anstatt ihn tot auf den Felsen hinauf zu schaffen und von dort hinunterzustürzen, hatten die Henkersknechte es sich wohl einfach gemacht und ihr nur unter die Klippe gelegt.

Sollte er sich jetzt darüber freuen, daß er noch lebte? Ihm war eher danach, sich wieder hinlegen und einfach zu sterben, denn wofür lohnte es sich denn weiterzuleben? Selbst wenn Oseram Kasiterim tatsächlich tot war, Dandar und Lefiët brachte das nicht zurück. Die Tat hatte seine Rachegelüste befriedigt, aber da war noch immer das Loch, das der Tod seiner Liebsten gerissen hatte.

*



Irgendwann merkte er, daß er weinte, und die Mengen Rotz und Tränen auf seinem Gesicht ließen ihn für einen Moment denken, daß die grenzenlose Trauer der Zurückgebliebenen vielleicht für das Salz im Ozean sorgte. Was sollte er nun tun? Die guten Götter hatten sich nie um ihn geschert und nun verwehrte ihm auch noch Chelem den Einzug in die Totenwelt. Vielleicht mußte er einfach viel direkter selbst Hand an sich legen, als zwei Tagesmärsche entfernt vom Meer Krabbenbrot zu essen, wie das Sprichwort sagte. Einige der Muschelschalen, die zwischen den Leichen auf den rundgewaschenen Felsen lagen, mochten zerbrochen scharf genug sein, sich damit eine oder zwei der großen Adern aufzuschneiden. Selbst seinem kleinen Sohn war es gelungen, sich mit einem einzigen Schnitt zu töten. Wieder flossen die Tränen heftiger, nahmen ihm die Sicht, als wolle der Ozean der Trauer in seinem Innern sich mit dem Kreismeer vereinigen.

Die Sonne kroch langsam über den Horizont und enthüllte, was das Zwielicht zuvor gnädig verhüllt hatte: die verrenkten Glieder und aufgesprengten Schädel der Toten, von Krabben auf die Knochen abgenagte Gliedmaßen. Das Gesicht einer augenlosen, aber noch frisch zu nennenden Toten fing Derhans Blick ein, sie hatte sich durch den Sturz wohl den Hals gebrochen, denn für eine solche Drehung des Kopfes war der Mensch nicht gemacht. Doch das lange schwarze Haar und ein paar Krabben verdeckten Hals und Schultern, so daß man fast glauben mochte, sie schlafe bloß.

Es fing seinen Blick, weil es vertraut war. Dort lag seine geliebte Lefiët, ganz ohne Zweifel. So hatte sie immerhin einen schnellen Tod gehabt. Waren die Köchin und seine ehemaligen Sklaven entkommen? Hatten sie zumindest Dandar eine Beerdigung ausrichten können?

Er sorgte sich um Jamul, Mirra und die Köchin ... Kabit. Sie hatten ihm und seiner Familie immer treu gedient und verdienten nichts als Gutes für ihre Dienste. Doch als sein ehemaliger Besitz und Bedienstete drohte ihnen, dieselbe Strafe zu erleiden wie ihr Herr, wenn die Stadtwachen ihrer habhaft wurden. Es war schon spät gewesen, als er den Patron vergiftet hatte, die Stadttore mochten schon geschlossen gewesen sein, als sie versuchten, Berresh zu verlassen. Er konnte nicht die Hände in den Schoß legen - oder mit einer Muschelschale gegen sich selbst richten -, bevor er nicht verläßliche Informationen über ihr Schicksal erhalten hatte. Das zumindest war er ihnen schuldig, denn ihnen konnte vielleicht noch geholfen werden.

Hatte Kabit nicht gelegentlich von ihrer Schwester in der nördlichen Vorstadt gesprochen? Ihr Schwager hatte dort eine Bäckerei und Lefiët hatte mehr als einmal gescherzt, wenn Kabit nicht mehr die Küche führen wolle, wüßte sie ja zumindest, wo anständiges Brot zu kaufen sei. Vielleicht hatten es die drei an dem schicksalshaften Abend noch bis in die Vorstadt geschafft.

Doch wie kam er durch die Stadt, ohne ... da lag eine am Deckel beschädigte Krabbenreuse, als Transportkorb würde sie funktionieren. Ihn würde mit den stoppeligen Wangen und Schädel - und ohne seine Gelehrtenkappe - niemand auf den ersten Blick erkennen. Seine Kleidung hatte ein paar Risse, die wohl von der unsanften Behandlung während seines Transportes hierher stammten, Arme und Beine hatten einige Schrammen und sein linker Fuß schmerzte beim Auftreten. Auch eine gründliche Untersuchung bestätigte jedoch seine erste Diagnose: gebrochen war nichts, aber er würde humpeln. Wenn er auch noch gebeugt ging, mochte man seine weißen Haare einem viel höheren Alter zuschreiben, als er es tatsächlich hatte, und seine Hose und das Hemd waren einfach genug, daß man ihn für einen Tagelöhner halten konnte. Er wusch sich das verklebte Gesicht mit sauberem Meerwasser und auch die mit seinen Sekreten befleckte Front seines Hemdes. Es würde getrocknet sein, bevor er den Hafen erreichte.

Bevor er seinen Plan umsetzte, legte er zwei aufgelesene Muschelschalen auf Lefiëts leere Augenhöhlen und schrieb seiner geliebten Frau mit Meerwasser einen Abschiedsgruß auf die Stirn. Mehr konnte er im Moment nicht für sie tun. Dann begann er, die hungrigen Krabben, die im Schatten der Klippe an den Leichen fraßen, einzusammeln. Mühelos hatte Derhan in kurzer Zeit die Reuse gefüllt. Von einem herrenlosen Gewand riss er ein paar Streifen ab, die er zur Fixierung des Deckels - und um seine Hände beim Transport vor den Scheren der Tiere zu schützen - darum knotete, dann trug er seine Beute vor sich her über den schmalen Felsenpfad, der vom Fuße der Richtklippe zum Hafen führte.

Zu dieser frühen Morgenstunde waren am Hafen nur Fischer, ein paar Händler und Dienstpersonal unterwegs, so daß niemand ihn anhielt und nach seinem woher und wohin fragte. Er vermied den Weg nach Westen, um nicht doch erkannt zu werden, hielt sich nördlich und passierte ohne Probleme die Neue Stadtmauer durch das Nordtor. Dann rief ihn eine der Wachen zurück.

Derhan versuchte, seinen Atem ruhig zu halten, drehte sich langsam wieder um und humpelte zu dem Torwächter, der ihn heranwinkte.

"Was sollen denn deine Krabben kosten, Alterchen?"

Derhan hielt seinen Blick gesenkt. "Die sind schon bestellt, Herr", nuschelte er dann.

"Na, du hast da zehn oder zwölf drin, wenn ich richtig sehe. Meinst du, dein Kunde merkt das, wenn zwei fehlen?"

"Aber Herr ...", begann Derhan und erlaubte seiner wachsenden Panik, hörbar zu werden.

"Ich geb dir ein Vierteltar für zwei, weil mein Schatz die so mag. Und ich kann mir nach der Nachtwache den Weg zum Hafen sparen."

Das war ein stolzer Preis für zwei Krabben. Wenn er das Angebot ausschlug, würde er sich verdächtig machen. "In Ordnung, Herr, für ein Vierteltar geb ich euch zwei." Derhan stellte die Reuse ab, löste die Knoten der Stoffbänder so weit, daß er den Deckel öffnen konnte und holte eine Krabbe heraus. "Wo soll ich sie reintun?" fragte er.

Der Torwächter überlegte einen Moment, dann nahm er kurzentschlossen den Helm vom Kopf und streckte ihn Derhan entgegen. "Erst mal da rein, ich hol eben das Geld." Eilig verschwand der Mann in der Wachstube und kam mit ein paar Kupfermünzen zurück, als Derhan schon wieder die Bänder verknotete. Er zählte das Geld, es war in der Summe tatsächlich ein Vierteltar. "Dann wünsche ich eurem Schatz guten Appetit, Herr." Er knotete das Geld in den Saum seines Hemdes.  "Aber nun muß ich weiter, ich werde schon erwartet, Herr."

"Natürlich", der helmlose Torwächter nickte und ließ Derhan gehen, dann sah er mit einer Mischung aus Stolz und Verzweiflung auf die beiden Krabben, die schon begannen, aus dem Helm zu klettern. Und Derhan machte, daß er in die nördliche Vorstadt kam.

*



Nach ein paar Schritten stellte Derhan fest, daß er schon mitten drin war in der nördlichen Vorstadt. Ein kleiner Orem-Tempel, sogar ein Ama-Tempel direkt an der Straße, gleich daneben Werkstätten und Geschäfte, die gerade öffneten. Hier also hatte die Köchin stets die ansonsten schwer zu bekommenden Früchte und Gewürze aus dem Westen erworben. Vielleicht kannte man sie hier und konnte ihm den Weg zur Backstube ihres Schwagers weisen.

"Herr", sprach er einen hochgewachsenen Obsthändler an, "kennt ihr die Köchin Kabit? Sie arbeitet in der Weststadt und hat mich mit Krabben zu ihrem Schwager geschickt. Aber ich hab seinen Namen vergessen. Ich weiß nur, daß er hier eine Bäckerei hat."

"Meinst du Nefut den Bäcker?" fragte der Angesprochene.

Aus dem hinteren Bereich des Ladens ließ sich nun eine Frauenstimme vernehmen. "Natürlich meint er Nefut. Die Schwester seiner Frau heißt Kabit und die arbeitet bei einem Mitwohner als Köchin."

Derhan nickte. "Ja, ich meine wohl Nefut, Herr", erklärte er. "Wo hat er denn seine Bäckerei?"

"Gleich neben dem Tyrima-Tempel, ein Stück die Straße runter. Heißt das, es gibt heute Nachmittag Krabbenbrot bei ihm zu kaufen?"

"Immer denkst du nur ans Essen, Lehan!" ereiferte sich die Frauenstimme.

"Natürlich denke ich immer ans Essen, ich verkaufe Obst! Und wenn Nefut Krabbenbrot backt, wollen die Leute Melonen dazu haben, also solltest du vielleicht die Jungs schicken, noch mehr zu holen."

Derhan humpelte schon weiter - und bekam Hunger. Vielleicht ließ Nefut sich ja wirklich dazu bewegen, Krabbenbrot zu backen. Eine deftige Mahlzeit würde ihm nach seinem unfreiwilligen Fastentag guttun.

Da war der Tyrima-Tempel, gut erkennbar an den spiegelblanken Messingornamenten um die Tür, und links daneben wirklich eine Bäckerei. Die Auslage war gut gefüllt, eine Frau, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Kabit zu haben schien, verkaufte das Brot und sonstige Gebäck, und neben dem Ofen stand ein stämmiger Mann und knetete Teig.

"Ich hab gehört, euer Krabbenbrot soll so gut sein", sprach Derhan die Frau an und hob die noch gut gefüllte Reuse so weit an, daß sie den quicklebendigen Inhalt sehen konnte.

Ihre Augen wurden groß. "So frisch! Nefut, das wird Krabbenbrot, was du da knetest", bestimmte sie dann. "Was willst du für die Krabben haben, Väterchen?"

"Etwas von dem Krabbenbrot, etwas Melone, eine Auskunft und vielleicht eine Schale Tee", zählte Derhan mit den Fingern seiner freien Hand auf.

Kabits Schwester kniff die Augen zusammen. "Was für eine Auskunft", fragte sie mißtrauisch.

"Ist Kabit gut nach Haus gekommen?" fragte Derhan mit gesenkter Stimme.

Die Frau atmete ein paar Mal tief durch. "Und das willst du wissen, weil ...?"

"Weil sie eine gute Köchin ist. Und weil mein Sohn sie geliebt hat."

"Ach der Kleine", seufzte sie und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wischte sie mit dem Ärmel fort. "Wir haben ihn hier beerdigt, gestern schon, als Kabits Sohn", flüsterte sie. "Aber die Mutter ... sie mußten schnell weg, das versteht ihr sicher. Sie haben Geld für die Beerdigung der Mutter hier gelassen, damit wir uns darum kümmern, wenn wir sie gefunden haben." Dann flüsterte sie: "Und für eure Beerdigung ebenso, Herr. Es hieß, ihr seid wegen Mordes hingerichtet worden."

"Sie hielten mich wohl für tot", antwortete Derhan leise, "und haben mich nur unter der Klippe abgelegt. Heute morgen erwachte ich dort. Der Körper meiner Gattin liegt noch da. Ich habe Muschelschalen auf ihre Augen gelegt, daran könnte man sie erkennen, wenn man ihr noch ein ordentliches Begräbnis geben wollte."

"Sie wird es bekommen, Herr, ganz sicher. Und ihr bekommt euer Krabbenbrot mit Melone... und Tee. Gebt mir nur den Korb. Ihr geht jetzt ins Badehaus und sagt, daß Mebit euch geschickt hat. Wascht euch, pflegt eure Wunden, und ich lasse euch noch frische Kleidung bringen. Da müßte es auch schwarze Tinte geben. Wißt ihr, wie sie anzuwenden ist?"

Derhan nickte. Auch wenn er die Yoshany schon lange hinter sich gelassen hatte, sie waren doch immer noch ein Teil von ihm - und auf diese Weise konnte er für die Berreshi tatsächlich unsichtbar werden.

*



Das Badehaus war drei Häuser weiter nördlich und wirkte - abgesehen von der sattgrünen Vegetation in seinem Innenhof - als sei es direkt aus der taribischen Steppe hierher versetzt worden. Als Derhan begann, sich zu entkleiden, erinnerte er sich an die Münzen, die er in sein Hemd geknotet hatte, zog es wieder über, ging zurück in den Vorhof und reichte dem Aufseher, der ihn nach dem Zauberwort 'Mebit' ohne Bezahlung durchgewunken hatte, das Geld. "Weihrauch für Orem, bitte", sagte er. Der Mann nickte, während er die Münzen zählte.

Derhan ging langsam zurück und als er von der Tür in den Vorhof zurückschaute, stiegen schon feine Rauchfäden von drei Räucherstäbchen im Sand der Opferschale auf. Im Bad entkleidete er sich, wusch sich und setzte sich ins heiße Wasser. 'So endet nun also mein Weg mit Lefiët und nichts davon ist mir geblieben.' Wie betete man zu einem Gott, wenn man nicht glaubte, daß er zuhört? Sie hatte geglaubt, doch war nun tot, ebenso wie ihr gemeinsamer Sohn. Und er lebte. War es doch die Hand des Gottes gewesen, die ihn bewahrt hatte? Hatte der Gott ihn damit zu längerem Leid verdammt, da Derhan selbst Dandars Erbe des unirdischen Blutes zur Sprache gebracht und damit die letzte unglückliche Verkettung der Ereignisse in Gang gesetzt hatte? War es die Rache des Gottes an Derhans geringer Wertschätzung dieses Erbes des eigenen Vaters?

Alle Fragen an Orem waren fruchtlos, denn Derhan konnte keine Antworten erwarten. Alles, was er tun konnte, war, das geschenkte Bad zu genießen und zu überlegen, wohin er nun gehen sollte, da alle Bande, die ihn zuvor mit anderen Menschen verbunden hatten, gekappt waren. Die Yoshany hatte er vor langem verlassen, in Menrish hatte er Lefiët und ihren Vater gefunden, doch auch dort war niemand mehr, zu dem er zurückkehren konnte. Und nach dem Tod von Lefiët und Dandar gab es keinen Grund mehr, in Berresh zu bleiben. Tatsächlich konnte sein Bleiben sogar gefährlich für Mebit und ihre Familie werden. Sollte der Rat erfahren, daß er seiner gerechten Strafe entgangen war, würden alle, deren Hilfe auch nur vermutet wurde, dafür bestraft werden. Wenn die Stadtwachen ihn fingen, würden sie ihn dieses Mal natürlich vom Felsen stürzen, schon um sicherstellen, daß er wirklich starb. Doch wer wußte, ob der Gott es diesmal zulassen würde?

Mebits Rat mit der schwarzen Tinte war so gut wie ihr Rat, das Bad zu besuchen. Er brauchte nur für eine kurze Zeit wieder zu dem zu werden, der er einst gewesen war: ein Oshey. Er kehrte zurück in die Steppe und suchte sich dort eine neue Heimat, deren Regeln er verstand - eine Heimat, in der nicht Politik und seltsamer Dämonenglaube über das Wohl von Kindern gestellt wurde. Für ihn ohne Stamm würde diese Heimat wohl eine Bande von Stammeslosen sein, und vielleicht konnte er durch die Fürsorge für diese Menschen zumindest einen Teil seiner Schuld an Lefiëts und Dandars Tod sühnen.

Derhan nickte kurz ein im warmen Wasser und als er wieder erwachte, lag auf der Bank neben dem Waschzuber und dem Handtuch ein Stapel frischer Kleidung: eine dunkelblaue Hose und eine dunkelrote Jacke, ein schwarzer Mantel und ein schwarzes Kopftuch. Sogar ein paar saubere, aber offensichtlich gebrauchte Stiefel standen dabei, die erstaunlich gut paßten und seine durch den ungewohnten Barfußmarsch geschundenen Fußsohlen auf das angenehmste abpolsterten.

Wie in allen taribischen Badehäusern war neben der Tür eine gemauerte Nische in der Wand, an deren Rückseite eine polierte Bronzescheibe als Spiegel befestigt war. Dort stand die Flasche mit schwarzer Tinte, ganz traditionell geformt wie drei aufeinanderliegende Kugeln und mit einem Pinsel am Stopfen, der gerade bis zum Boden des obersten Flüssigkeitsreservoirs reichte. Dieser Anblick war so vertraut, daß er - trotz mangelnder Übung in den letzten zwanzig Jahren - problemlos seine Augenlider manierlich schminken und auch das Stammestotem der Yoshany ausreichend erkennbar zwischen die Augenbrauen malen konnte: die vier Säulen und die offene Schriftrolle, wie seine Mutter es ihn gelehrt hatte. Fünf Striche mit dem Pinsel, die zusammen ein stilisiertes Pferd darstellten.

Er kämpfte einen Moment mit den Tränen, noch war die Tinte an seinen Augenlidern nicht getrocknet. Er wollte nicht tagelang mit den auffälligen Zeichen einer momentanen sentimentalen Anwandlung im Gesicht herumlaufen. Zudem hätte es im Zweifel seine Identifizierung einfacher gemacht. Ohne schwarze Tränenspuren auf den Wangen war er einfach nur irgend ein Yoshany, den die Handelswinde bis nach Berresh getragen hatten. Und nun würden sie ihn wieder davon tragen, zurück in die Steppe, wo er spätestens mit dem Verblassen der Tinte nicht mehr auffindbar sein würde.

* ENDE *



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