andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Samstag, 15. Oktober 2005, 18:09
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Vorurteile

Die Brottheke beim Bäcker neulich. Ich stehe in der Schlange an und lasse meinen Blick schweifen.
Ganz normales “Volk“ um mich herum. Mütter mit Kindern, alte Ehepaare, Rentnerinnen und Rentner, Jugendliche... Hier quängelt ein kleines Mädchen, weil sie eine Apfelschnecke will... Dort versucht ein mittelalter Mann im Anzug seiner Begleiterin zu erklären, wieso die FDP die beste Partei von Allen ist... Die Verkäuferin an ihrem Stand mit Mettwürstchen gähnt ausgiebig und wechselt das Standbein.
Von den Kassen des Supermarktes kommt eine schwankende Gestalt, die sich weder in der Warteschlange einreiht, noch dem Ausgang zustrebt. Stattdessen bleibt der Mann am Ende der Theke stehen, wo sich ein Durchgang für die Bäckereifachverkäuferinnen (was für ein Wort!) befindet. Kaum angekommen stützt er sich mit der freien Hand, in der Anderen befindet sich eine Flasche Orangenlimonade, auf der oberen Glasplatte der Theke ab und präsentiert dabei allen Umstehenden eine schmutzverkrustete Hand mit schwarzrandigen Fingernägeln.
Wirr liegende, fettige und graumelierte Haare. Das Gesicht faltig und verlebt, hell schimmernde millimeterlange Bartstoppel, blutunterlaufene zusammengekniffene Augen, schwere Tränensäcke... Dazu trägt er einen grauen Parka, den Reißverschluss bis zum Hals hochgezogen, eine schlecht sitzende fleckige Jeanshose und eine Art von Schuhen, die unter dem Schmuddel vermutlich als “sportlich“ eingeordnet werden könnte.
Der Mann schwankt trotz Festhalten an der Theke. Sein Kopf kippt immer wieder zur Seite, seine Augen fixieren den Pflaumenkuchen in der Auslage. Die Orangenlimonade scheint ihm jeden Moment aus der Hand fallen zu können.
„Bäh, ein Penner,“ höre ich es neben mir. Ich schaue gar nicht hin, denke nur an meine Mutter, die ihn auch sofort so nennen würde. Auch mir ging das Wort natürlich im Kopf herum, bin ich doch Kind meiner Mutter... Doch ich rufe mir in solchen Augenblicken immer Elvis in Erinnerung. Elvis, in meiner Jugend Gelsenkirchens bekanntester Stadtstreicher, sich selber “Stadtsänger“ nennend. Wenn er einigermaßen nüchtern war, konnte er sich nach seinen Gesangseinlagen immer über einen vollen Hut freuen.
In meiner Erinnerung sitze ich in meiner Küche, Elvis mir gegenüber, den Teller mit den Tortellini in Schinken-Sahne-Soße vor sich.
„Frisches Basilikum fehlt noch, ansonsten ist es sehr gut,“ urteilt er schelmisch über meine Kochkünste. Ich grinse gequält, noch sind meine Vorurteile nicht besiegt. – Dann erzählt er, dass er früher gerne gekocht hätte, für seine Frau, für seine Familie. Eine Träne glitzert in seinem Auge.
Mehr erzählt er nicht. Er löffelt den Teller leer, bedankt sich und verlässt die Wohnung laut singend. - „Love me tender“ klingt im Treppenhaus eines fünfstöckigen Hauses recht eindrucksvoll (das ältere Ehepaar, das unter mir wohnte, hielt mir seinen Besuch noch wochenlang vor. Darum ließ er es dann; irgendwie schade...).

„Guten Tag Herr Doktor,“ reißt mich die hohe Stimme einer der Verkäuferinnen aus den Gedanken – und gleich wieder hinein, als die abgerissene Gestalt, die an der Brottheke lehnt, grüßend zurücknickt.
Oje, denke ich. Steckt etwa eine schlimme Geschichte hinter dem “Doktor“? - Elvis war Lehrer, wie ich später erfahren habe. Musik- und Deutschlehrer, verheiratet, drei Kinder. Er gab Konzerte als Elvisimitator und lebte mit seiner Familie in einem Reihenhaus. Dann kam der Autounfall...
Ich weiß noch, dass es mir tagelang schlecht ging, als mir seine Schwester das Alles erzählte. Sie kümmerte sich um ihn soweit er es zuließ, brachte ihm Tabak und Blättchen, nahm ihm im Sommer die Winterkleidung ab und im Winter die Sommerkleidung, schaute nach seinem Schlafsack, seinem Zustand, ihm.
Mehr erlaubte er nicht.
Sogar geträumt habe ich damals davon. Es verfolgte mich, seine traurige Ballade mit dem Text: „Wär‘ ich doch mit gefahren, wär‘ ich doch mit im Auto gewesen...“ ging mir nicht aus dem Sinn (vielleicht auch deswegen, weil ich mich schämte: es war ein scheußliches Lied mit holprigem Text – und ich hatte es ihm genau so gesagt!).

Mit anderen Augen schaue ich ans Ende der Theke, suche nach Indizien, lasse meiner Fantasie freien Lauf. Mitgefühl spült schäumend durch mein Hirn.
„Ich habe jetzt drei Tage das Bett nicht verlassen,“ höre ich den Doktor wie durch einen Schleier. „Heute habe ich es dann mit ein wenig Gartenarbeit versucht.“ Ich sehe sein schiefes Grinsen. „Aber dann reißt mich meine Frau los, damit ich ihr die Wasserkästen trage.“ – Er winkt der Verkäuferin jovial zu und geht schwankend zum Ausgang.
Nein, nicht schwankend. Hinkend eher. Irgend etwas ist mit seiner Hüfte... Gartenerde an den Schuhen, grüne Flecken von Pflanzensaft an der Hose, auch entsprechende Spuren an der Jacke. Leises Husten noch, als er auf einen silbernen SLK mit geöffnetem Kofferraum zugeht. Davor stehen zwei Getränkekästen und eine elegante Frau mittleren Alters im Hosenanzug.
Es funktioniert halt in allen Richtungen...

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Sally (55)
(03.11.05)
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