andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Mittwoch, 18. Januar 2006, 18:10
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Kaffeeklatsch

Erinnert sich noch jemand an Frau Liebeck, Frau Stella Liebeck? – Ja?
Zur Zeit wäre es nicht verwunderlich, da ihr Name durch das Internet geistert und sogar Zeitungen und Fernsehen erreicht. Ihr zu Ehren haben irgendwelche Spaßvögel den Stella-Liebeck-Award ins Leben gerufen, um damit Menschen zu feiern, die sich durch besondere Dreistigkeit auszeichnen.
Stella Liebeck hatte Mac Donalds verklagt; diese Sache mit dem heißen Kaffee, an dem sie sich verbrannt hatte. War ja auch unfassbar, dass ihr niemand sagte, dass Kaffee heiß sein kann ... Ami-Land halt. Das kennen wir. Da lässt sich der größte Schwachsinn einklagen.
Wurde nicht AUDI vor Gericht gezerrt, weil das Bremspedal angeblich zu klein war (eine Frau hatte ihr eigenes Kind angefahren: in der Eile hatte sie die Bremse nicht getroffen)? Oder Black & Decker, die inzwischen in der Betriebsanleitung für ihre Luftkissenrasenmäher aufgenommen haben, dass sich ein Rasenmäher nicht zum Heckenschneiden eignet (warum haben sie das wohl gemacht?).
So kommt auf den ersten Platz des Stella-Liebeck-Preises Merv Grazinski, der dafür Schadensersatz erhielt, dass sein Wohnmobil in einen Graben fuhr, obwohl Merv doch den Tempomaten eingeschaltet hatte, bevor er nach hinten Kaffee kochen ging; - während der Fahrt!
Klar, die Geschichte habe ich schon gehört. Aber ... Hoppla! Da war doch was ...
Über GOOGLE lässt sich nur schwer etwas heraus finden. Der Stella-Liebeck-Award beherrscht die Szene – und damit auch die Geschichte von Merv Grazinski. Doch mein Misstrauen ist geweckt ... doch erst unter “urbane Mythen“ (bzw.: moderne Märchen) werde ich fündig. Genau das war es: erfundene Geschichten, die, von vielen Menschen verbreitet, plötzlich den Geschmack von Wahrheit bekommen. Wir glauben halt gerne, was uns immer wieder vorgebetet wird (eine zutiefst menschliche Eigenart). Erschreckend!

Wer drei Mal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht! – Gilt das noch? – Gilt das nur für Zwischenmenschliches? Für soziale Kontakte? Für Menschen? – Was ist mit dem Internet? Zeitungen? Fernsehen? Schulbüchern?
Abgestumpft fühle ich mich. Wie oft habe ich offensichtliche Fehler in Sachbüchern gefunden? Falsche Bildunterschriften, Verwechslungen, überholte Lehrmeinungen, wissenschaftliche Mythen ... Hat sich nicht der hoch gefeierte Hunde-Kloner als Betrüger heraus gestellt und damit die renommiertesten Wissenschaftsmagazine blamiert? Gab es nicht auch einmal Hitlers Tagebücher? – An BILD will ich gar nicht denken.
Im Video-Text lese ich, dass Jerry Colaitis gestorben ist und seine Familie ein japanisches Restaurant auf zehn Millionen Dollar Schadensersatz verklagt. Deren japanischer Koch hatte mit Garnelen nach Jerry geworfen, woraufhin der sich beim Ausweichen den Nacken verrenkte. Zehn Monate später gab es dann Komplikationen in Folge einer Nackenoperation. Schade für Herrn Colaitis. – Liest sich sehr lustig und unglaubwürdig erscheint es auch nicht, oder? Wir kennen doch das amerikanische Rechtssystem ...
Stellt sich noch die Frage nach dem Schaden. Schaden? In drei Wochen ist doch alles vergessen, nicht wahr? Warum machen wir das dann nicht einfach alle? Ich könnte mir doch mal ein paar falsche Wahrheiten über mich selbst ausdenken; merkt doch keiner. Und die diffuse Erinnerung daran schwingt längere Zeit nach und alle (virtuelle) Welt erkennt mich als den Coolen, den Superklugen, den Attraktiven, wieder. Wer will schon etwas Langfristiges?

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Symphonie (73)
(19.01.06)
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 Alpha (26.01.06)
Hihi. Das ist toll geschrieben und amüsant obendrein. Fast noch amüsanter sind meine Überlegungen, wen ich alles wegen was verklagen kann/will/könnte ;-D
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