andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 22. März 2007, 04:37
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Talent ist alles

Seit vielen Jahrzehnten wird jetzt die Diskussion darüber geführt, ob der Mensch durch das Lernen oder durch die Gene bestimmt wird. Grundsatzmeinungen prallen aufeinander, Vorurteile werden ausgetauscht (und gepflegt) und die vorherrschende Meinung wechselt wie der Aufschlag bei zwei ungeübten Tischtennisspielern.
Allerdings finden wir keinen festen Frontverlauf, keine zwei Parteien, die sich bekriegen. Die Gräben laufen mitten durch jede Gruppe und manch eine “Seite“ trifft auf der anderen “Seite“ einen Freund. Wissenschaftler stehen sich gegenüber, Christen, Pädagogen, Psychologen, Ärzte …

Immer wieder wird der Unterschied zwischen Mann und Frau ins Rennen geworfen, um die Streitereien anzuheizen (und um damit Geld zu verdienen). Sex und die Mann-Frau-Frage sind halt gute Zugpferde für die Presse und die Meinungsbildung. Dabei spielen alle Seiten mit festsitzenden Meinungen, die nicht hinterfragt, sondern benutzt werden. Ein Beispiel dafür ist das Talent.
Jeder scheint zu wissen, was es mit Talent auf sich hat. Es ist ein schlagendes Argument für diejenigen, die von den angeborenen (oder gottbestimmten) Rahmen reden, in denen der Mensch sich bewegen muss. – Und keiner stellt das in Frage. Stattdessen gibt es Synonyme: Gabe, Genie, Anlage, Befähigung …
So kommt es, dass besonders in den künstlerischen Bereichen der Glaube an das übermächtige Talent wächst und gedeiht. Talent heißt Erfolg, fehlendes Talent Misserfolg. So einfach ist das.
Dabei merken die Leute gar nicht, dass sie eine geradezu religiöse Bindung eingehen. Besonders anfällig sind die, die davon reden, der Glauben bedeute zu glauben und die Wissenschaft zu wissen. Sie merken gar nicht, dass sie längst glauben – und zwar der Wissenschaft; oder besser: das, was uns von den Medien als Wissenschaft verkauft wird. Neue Erkenntnisse, neue Entdeckungen … jeden Tag hageln diese Sachen auf uns ein.
Doch Wissenschaft ist Zweifel, wo Glauben Wissen ist (der Urheber dieses Zitats ist nicht mehr feststellbar). Darum müsste das Thema “Talent“ zuerst untersucht und in Frage gestellt werden. Wird es aber nicht.

„Er hat ein Verkaufstalent.“ – Angeboren? Steht es in den Genen (oder ist es Gottes Geschenk) zu wissen, wie Autos oder Versicherungen an die Leute gebracht werden?
„Das Geigenspiel liegt ihr im Blut.“ – Ähm … wie lange gibt es die Geige?
„Ein außergewöhnliches Talent für Atomphysik.“ – Klar, hat Ururururoma schon am Lagerfeuer gehabt.
„Der geborene Lyriker, die geborene Schriftstellerin.“ – Vor 6000 Jahren hätte er Hieroglyphen-Elfen in Stein gehämmert und sie weltverändernde Bücher in Wachstafeln gestochen. Und vor 15.000 Jahren …
„Dieser Umgang mit dem Computer ist eine Gabe.“ – Nun gut, das Gen scheint noch nicht sehr alt zu sein.

Gegen solch eine böse Infragestellung werden die natürlichen Talente ins Feld gebracht. Singen etwa, Taktgefühl (also das mit der Musik dazu, nicht das mit den Fettnäpfchen), bildhauerische Fähigkeiten, mathematische Begabungen, körperliche (= sportliche) Voraussetzungen und so weiter. In Kombination miteinander könnten sie doch … wäre es doch eine gute Erklärung … hört es sich doch logisch an … Ja, so beginnt Glauben.
Aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse! – Ja, - was war Wissenschaft noch einmal? - Wissen?
Erinnert sich noch jemand an den großartigen Artikel im STERN über die wahren Ausmaße der weiblichen Klitoris? (Ich bringe mal den Sex ins Spiel … ähm … weil … weil sich Leser nicht dafür interessieren)
Zitat aus dem aktuellen medführer (ihr Gesundheitsportal mit den exklusiven Arzt- und Klinikinformationen - www.medführer.de ):

… Erst im Jahr 1998 sorgte eine neue Entdeckung der Urologin Helen O’Conell in der Fachwelt für Furore: die Klitoris liegt zum größten Teil unter Gewebe verborgen und ist mehr als doppelt so groß wie bisher angenommen wurde. …


Nun … Helen O’Conell hatte es nicht schwer diese Entdeckung zu machen, denn sie fand sich nicht nur bei Operationen und gründlichen Untersuchungen, sondern auch in Büchern. Nur in den gängigen Lehrbüchern hatte es nie Einzug gehalten, bevor Helen O’Conell als Entdeckerin angegeben werden konnte.
Lassen wir das: Wiederentdeckungen sind nicht medienwirksam.

Verlassen wir uns lieber auf das Talent. Es muss nur entdeckt werden, nicht gefördert, nicht geschult, nicht trainiert. Und es muss auch nicht in die Zeit, in die Mode oder in den Zeitgeschmack passen. Es ist einfach da.
Darum sucht Deutschland den Superstar, das Supermodel, die Super-Musikgruppe … bald wohl auch den Super-Autor, den Super-Maler, den Super-Tänzer (oder hatten wir das schon?) … dann den Super-Pornostar und den Super-Politiker.
Nur beim Super-Märchenerzähler läuft das Casting schon lange. Grimm und Konsorten liegen leider etwas zurück, denn die Konkurrenz macht nicht in Geschichten, sondern in Meinungen.

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 IngeWrobel (22.03.07)
...ich strecke (melde mich zu Wort):
Gestern habe ich vor einer Super-2.Klasse super gekonnt ein eigenes Märchen (super! - natürlich!!!) erzählt, und es ist super gelaufen. Vielleicht ein Ansatz zu neuer (Märchen-) Erzählkultur. Projekte wie dieses ("Lesung mit einer echten Autorin") lassen hoffen. Trotz der nur anderthalb Stunden mit den Kindern war für mich erkennbar, dass dort Talente schlummern. Latent vorhandene Freude am Fabulieren zeigte sich in den Fragen an mich und ich bin sicher, dass das eine und andere Kind zuhause weitergesponnen hat, bzw. ein neues Märchen erdachte. Insofern stimme ich Dir halb zu: Talent ist da - aus welcher Quelle auch immer - es muss nur die Chance erhalten, sich zu entfalten. Die Wissenschaft bleibt bei dem Prozess aussen vor.
LG, Inge

 Alpha (22.03.07)
Das ist eine wunderbare Kolumne (Warum lese ich das nicht öfter?), unterhaltsam und intelligent (der dritte Absatz!) bewegt sie sich um den Kernpunkt "Talent" und zieht ihren Kreis immer enger - um kurz davor abrupt zu halten und den Leser mit der Ergebnisfindung allein zu lassen. Quasi ein bisschen wie das urplötzliche Verschwinden der Stützräder. Äh, zurück zum Thema:
"Talent heißt Erfolg, fehlendes Talent Misserfolg."
Das ist natürlich die einfachste aller Rechnung, quasi ein gekürzter Terminus, aber so eigentlich nicht korrekt. Überhaupt beginnt alles schon mit dem bloßen Wort Ta-lent, und die verbreitetste Definition scheint "Talent = Höchstleistung ohne Müh' und Arbeit" zu sein. Und inwieweit ist sie auch korrekt? Ich sehe 'Talent' als eine Art gesteigerter Form der "Veranlagung". Ja, ich sag Veranlagung, was ja wohl meine Einstellung zu "Gene oder Lernen" deutlich genug ausdrückt, es ist nämlich das Natürlichste (und Logischste) überhaupt, dass mein Mensch nicht alles gleich gut kann; irgendwas wird er besser können als was anderes. Vorstellungsvermögen der Räumlichkeit, Verständnis für Zahlen, Abstraktionsfähigkeit, Orientierungssinn ... Rein aus dem Lernen sind diese Eigenschaften sicher nicht zu zaubern, der Grundstein befindet sich in den Genen, der Rest verteilt sich zum Großteil auf das Wirken der frühsten/ersten Umwelteinflüsse und spätere Förderung (Chancengebung) bzw. die Art und Weise des Nutzens. Das ist die Wiege einer Befähigung. Wie, warum und unter welchen Bedingungen diese zum 'Talent' wird, ist jetzt mal fix auf irgendeinen anderen Kommentar abgeschoben (puh). Komisch, mir kam grad das hier in den Sinn:
Ein Talent im Verhältnis zu einer Zeit ergibt eine/die bestimmte Leistung (denken wir uns die Höchst~), also: Talent / Zeit = HLeistung.Dann fiel mir ein, Talent kann man durch Arbeit ersetzen, und ich musste sogar googeln um sicherzugehen, dass die Formel tatsächlich so lautete (jaa, meine Schulzeit liegt ja schon Jaahre zurück). Jedenfalls: Arbeit / Zeit = HLeistung. Womit sich nun scheinbar ganz einfach bestätigt, dass man mit Arbeit (Lernen) genauso viel erreichen kann wie mit Talent. Das mag viele dazu verleiten, beides einfach gleichzusetzen und dabei die wirklichen Verhätnisse der unterschiedlich hohen Aufwands außer Acht zu lassen. Außerdem ist diese ganze Rechnung ja ziemlich unspezifisch, aber ich will jetzt meine Umwelt damit verschonen, die differenzierteren Betrachtungen hier darzulegen. Wäre auf kariertem Papier/Panel sowieso einfacher *g* Ähm, ja. Fertig
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