andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 12. April 2007, 03:21
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märchenhaft

Während sich in Deutschland “Bildungspolitiker“ darüber streiten, ab wann in Grundschulen die Fremdsprache Englisch und der Umgang mit Computern unterrichtet werden sollen (im vorauseilendem Gehorsam bieten das schon manche Kindergärten an), streiten sich die Engländer zur Zeit über einen anderen Lehrstoff im Unterricht: Märchen. Für Deutsche wirkt das exotisch und sie fragen sich: Was hat das mit Bildung zu tun? (zumindest in meiner Schulzeit gab es nicht einmal in der ersten Klasse Märchen; - das war etwas für den Kindergarten … jetzt wohl in Englisch und am Bildschirm)

Seltsamerweise ist es aber nicht die Frage nach dem Sinn oder Unsinn von Märchen in der Schule, die die Engländer (und schon seit einem Jahr die Amerikaner) bewegt. Es ist der Inhalt eines bestimmten Märchens, die Aussage. Oder wie manche Leute sagen: die Propaganda.
Nun denken wir gemeinhin nicht über Märcheninhalte nach (die Engländer wohl auch nicht). Wir nehmen alte Frauen, die in Backöfen geröstet werden, hin. Über Racheaktionen mit glühenden Schuhen denken wir nicht nach. Das Aufschneiden von Wölfen erfüllt einen guten Zweck. Magie und verzauberte Wesen entlocken niemandem ein „das entspricht nicht den Erkenntnissen der Physik“. Zwangshochzeiten als Belohnung für Helden gehört eh zum Märchenkolorit und das Abschlachten des Bösen erweckt beim Hollywood-Konsumenten nur ein Gähnen.

Was also kann so schlimm sein, dass sich darüber ein regelrechter Streit entzündet? – Was wohl? Na? – Es geht natürlich um Sexualität. Und noch schlimmer: um Homosexualität.
Prinz Bertie gibt dem Drängen seiner Mutter nach und schaut sich die heiratswilligen (wollen wir zumindest hoffen …) Prinzessinnen an – und verliebt sich in den Prinzen Lee. Keine große Action, kein in Strömen fließendes Blut, keine niedergemetzelten Drachen … aber mit Happy-End für “King & King“ (das Buch ist von Linda de Haan und Stern Nijland).
Aber nur mit einem Happy-End im Märchen. In der Realität ist schnell der Vorwurf “Förderung der Homosexualität“ laut geworden. Elternvereinigungen verklagen die Schulen, kirchliche Vertreter murmeln Sätze mit “verdorben und anrüchig“ (und können dafür nicht einmal verklagt werden … ), Politiker lehnen sich aus dem Fenster … Der übliche Empörungs-Zirkus halt (das wäre bei uns nicht sehr viel anders).

Im Jahr 2006 sagte Paul Ash von der Schulaufsicht in Lexington (dort befindet sich die erste US-amerikanische Schule, die das Märchen im Unterricht verwendete): "Wir wollen unseren Schülern die Welt erklären, in der sie leben. Siebenjährige sehen hier nun mal homosexuelle Menschen. Sie sehen sie in der Schule. Sie sehen sie mit ihren Kindern. Viele schwule Familien wohnen in Lexington." (Quelle: SPIEGEL-ONLINE vom 27.4.2006)

Das ist wohl der richtige Ansatz: Märchen sollen den Kindern in verständlicher Form die Welt erklären. Das ist vernünftig, nachvollziehbar und didaktisch. Nur leider gibt es da ein Problem: die Märchen schildern nicht (mehr?) die Wirklichkeit und strotzen vor sexuellen Symbolen (die aber zum Glück niemand versteht … ansonsten dürften Märchenbücher nur unter der Ladentheke verkauft werden).
Modernisierung ist also angebracht:
- ausgesetzte und verwahrloste Kinder, die sich vor einer alten Frau in Acht nehmen müssen? – Nein, umgekehrt wird ein Schuh daraus.
- eine junge Frau, die bei sieben ihr unbekannten Junggesellen einzieht? Junggesellen, die laut singen und mit Spitzhacken herumwedeln? – Also bitte. Allein schon dieses: „Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer in meinem Bettchen geschlafen?“ … da klopft es doch gleich an der Tür und tönt: „Ich soll hier ein Rohr verlegen …“ – Weg damit und eine biologisch dynamische Veganer-Wohngemeinschaft ins Märchen gepackt. Da macht der vergiftete Apfel auch wieder Sinn.
- ein am Teichufer herumliegendes Federkleid stehlen? – Denkt denn keiner an die Vogelgrippe?
- ein Mädchen, das sich am Spinnrocken sticht? – Wer kennt denn das noch? – Die Diebstahlsicherung von C & A ginge vielleicht oder das Preisschild …
- ein Mädchen, das Stroh zu Gold spinnt? – Oha … das geht ja gar nicht. Zeitgemäß wäre irgendeine Fähigkeit mit dem Handy. Mir will nur gerade keine einfallen …
- Brotkrumen? – Wie wär’s mit Schokoladenstreusel? Oder gleich mit ’nem Navigationssystem?

Nur das Märchen vom Mädchen mit den Schwefelhölzern muss nicht geändert werden. Da reicht es, wenn wir ein paar Jahre warten. Schon passt unsere Welt wieder in die Geschichte.

Und ein Märchen über Bildungspolitiker, die immer das Bildungssystem verschärfen wollen, das sie selber ausgespuckt hat? Nein, das ist kein Thema für ein Märchen, sondern für ein Trauerspiel.

Quellen:
 Märchendebatte 1
 Märchendebatte 2
 USA 2006



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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag

Ropa (33)
(12.04.07)
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