andi(e)stirnschlag

Kleinlichkeiten


Eine archivierte Kolumne von  AndreasG

Donnerstag, 23. August 2007, 06:42
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neuer Sex

Nachdem der letzten Kolumne vorgeworfen wurde, dass sie ein sehr komplexes Thema zu einfach abgehandelt hätte, wende ich mich heute einem einfacherem Thema zu: der Sexualität.
Nein, das ist noch zu einfach … nehmen wir doch die Liebe, die Jugend und die Sexualmoral hinzu.
Wie wäre es außerdem mit einer neuen Wortschöpfung? So etwas wie “Metrosexualität“, nur nicht so abgegriffen und auf Promis gemünzt. Gefällt: “Neosexualitäten“?

Diese “neuen Sexualitäten“ hat Volkmar Sigusch erfunden … oder entdeckt. Sie sollen das Lebens- und Liebesgefühl der heutigen Jugend beschreiben, die aufgewachsen ist in ein Welt voller Pornographie und mit Eltern, die zur Generation der sexuellen Revolutionäre gehören.
Zu erwarten wäre vielleicht, dass die jungen Menschen ziellos der körperlichen Befriedigung hinterherhecheln, sich den unterschiedlichsten Praktiken hingeben oder alles ausprobieren wollen, das ihnen als sexuelles Ideal vorgebetet wird. Eventuell könnte auch Überforderung, Trotzverhalten oder eine Hinwendung zu konservativen Ansichten erwartet werden, doch Volkmar Sigusch fand eine ganz andere Reaktion: Gelassenheit.

Eigentlich logisch … wie reagieren wir auf Überreizungen? - Zuerst kommt es zu seltsamen Quer-Reaktionen, dann werden wir unempfindlicher für diesen Reiz. Das kennen wir von Beispielen der unterschiedlichsten Bereiche: dem sprichwörtlichen Sprung ins kalte Wasser, der Schärfe von Essen, den Gewaltbildern im Fernsehen, der Höhenangst, dem Alkohol, dem Straßenlärm, gewissen Düften, der sexuellen Anziehung eines Menschen und so weiter.
Mit Abstumpfung oder Gewöhnung wird es oft umschrieben und doch ist es mehr: vorher nicht wahrnehmbare Nuancen werden erkennbar. Wer gerne scharf isst, kann trotzdem andere Gewürze herausschmecken und genießen; dem Ungeübten bleibt nur das Brennen um Mund. Leute, die an viel befahrenen Straßen wohnen, können bestimmte Geräusche aus dem Lärm heraushören.
Und die Menschen, die gerne Filme voller Action und Gewalt sehen? - Sie wollen nicht unbedingt immer mehr und mehr Blut spritzen sehen, sie wollen vielmehr realistischere Szenen: keine Spielzeug-Modelle an dünnen Strippen, keine Animationen, die künstlich wirken, keine unglaubwürdigen Sachen.
Natürlich gibt es auch die Steigerung. Diese klassische Methode des “viel hilft viel“, mit der wir uns in den meisten Fällen nur noch tiefer in die Misere steuern. Da halten wir es wie früher mit den Pflanzengiften: die Dosis reicht nicht, also verdoppeln wir sie.
Tja … das kennen wir auch von der Sexualität, wenn die Lust und die Leidenschaft schwinden und das Schreckgespenst der Langeweile mit dem Laken winkt … Reizwäsche, Fantasien, neue Stellungen, “interessantes“ Spielzeug, Swinger-Clubs …

Warum, zum Teufel, soll die Jugend denn anders reagieren? Wo soll denn Gelassenheit her kommen, wenn nicht alles ausprobiert wurde? – Gelassen ist jemand, dem etwas egal ist oder der Erfahrung besitzt. Die Jugend muss neugierig sein und will erleben, nicht sofort Rücksicht auf den Anderen nehmen.
Könnte es sein, dass die Jugend gewisse Nuancen in dem Verhalten der Erwachsenen sieht, die die Erwachsenen nicht wahrnehmen? Könnte es sein, dass auch in Pornos mehr zu sehen ist als nackte Haut?
Nun … die Körperteile des Menschen sind selbstverständlich individuell und einmalig. Keine Hand sieht wie die Nächste aus, keine Wade, keine Hüfte, kein Rücken. Und doch: eine gewisse Verwechslungsgefahr gibt es schon. Dünne und rasierte Frauenbeine, muskelbepackte Männerarme, behaarte oder unbehaarte Männerbrüste, schmale Frauenschultern … selbst bei den primären und sekundären Geschlechtsorganen sind die Unterschiede nicht so gewaltig. Irgendwie ist das schon austauschbar.
Wer Individualität will, der muss schon in die Gesichter schauen - oder lässt es in Pornos besser bleiben …

Sollte Volkmar Sigusch Recht haben mit der Neosexualität, dann sind die Gründe wohl in der Glaubwürdigkeit zu suchen. Liebe, Leidenschaft und Lust können nicht krampfhaft erzwungen werden, oder routinemäßig geschauspielert, ohne dass es für Außenstehende wie Gehampel aussieht. Und Gehampel wirkt nicht glaubwürdig.
In einer Welt voller Tabus, Verbote und Zwänge, in der Homosexualität geächtet ist, Nacktheit sich nicht gehört und Selbstbefriedigung blind macht, gibt es kaum Außenstehende. Jeder ist irgendwie betroffen. - In unserer Welt gibt es viele Außenstehende (leider in vielen Formen).
Andererseits gab es immer schon Außenstehende und damit kann die Neosexualität gar nicht so neu sein. Und selbst die Aussage Volkmar Siguschs “Wohllust statt Wollust“ kommt mir irgendwie bekannt vor …


Quelle: GEO-WISSEN, Nr. 35, “Sünde und Moral“, S. 140: Auszug aus dem Buch “Neosexualitäten“ von Volkmar Sigusch (Campus-Verlag 2005)

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Kommentare zu diesem Kolumnenbeitrag


 Melodia (23.08.07)
gefällt mir sehr, sehr gut... mir kam auch einiges bekannt vor... gerade zu eine kopie dessen...

vlg
Ropa (33)
(24.08.07)
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